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Leichenbegängnis des von der Wissenschaft widerlegten und gleichsam geistig verendeten Glaubens an den jüdischen Ritualmord veranstaltet hat, daß die nach dem Dafürhalten der Staatsbürger-Zeitung hervorragenden Männer der Wissenschaft und des praktischen Lebens, welche auf die Umfrage antworteten, als Leidtragende an dem Leichenbegängnisse teilgenommen haben, und daß ihre Antworten oder „Gutachten“, wie sie die Staatsbürger-Zeitung nennt, gleichsam die Leichenreden waren, die dem in das Grab gelegten Ritualmord-Aberglauben gehalten wurden.

Ihrem Inhalte nach sind die Antworten so voneinander verschieden, daß die Staatsbürger-Zeitung daraus den Schluß zieht, es sei in der That dringend erforderlich gewesen, durch eine solche Umfrage die Geister anzuregen und zur Klärung zu zwingen, die sie jedoch vergeblich hofft. Der Wirrwar ist zu groß.

Schon gleich in den Antworten auf die erste Frage, ob es überhaupt einen jüdischen Ritualmord giebt, sehen wir, wie die Ansichten weit auseinandergehen, ja geradezu einander widersprechen. Während die einen die Existenz des jüdischen Ritualmords unbedingt behaupten, erklären die anderen, man könne nur mit Wahrscheinlichkeit von einem solchen sprechen, oder es sei bloß die Möglichkeit eines solchen zuzugeben, und einer antwortet sogar mit einem unbedingten „Nein“.

Eben so verschieden lauten die Antworten auf die Frage, wann der Ritualmord in der Geschichte zum erstenmal Erwähnung finde, oder wann der Ritualmord aufgekommen sei. In der einen Antwort werden wir belehrt, daß der Ritualmord erst von der Mitte des 17. Jahrhunderts an sich nachweisen lasse, eine andere Antwort meint, es gebe schon Ritualmorde vom 8. Jahrhundert an, während wieder andere die Einführung des Ritualmords dem Moses zuschreiben oder ihn gar schon lange vor Moses im grauen Altertum entdeckt haben wollen.

Auch darüber herrscht große Uneinigkeit, ob der Blutmord bei allen Juden und in allen Ländern, oder nur in bestimmten Ländern und bei einzelnen Juden oder Judenstämmen gefunden werde. Die einen sagen, daß die Juden aller Länder von den Stimmen aller Völker des Blutmords beschuldigt würden, während andere wenigstens die deutschen Juden von dieser Beschuldigung ausnehmen; wieder andere

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/94&oldid=- (Version vom 31.7.2018)