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notgedrungen tagtäglich Verurteilungen auf Grund des § 360, 11, z. B. gegen Verbreiter falscher Gerüchte, schwindelhafter Inserate, mystifizierender Alarme. (Und ich wüsste in der Tat nicht, wie man diese Leute fassen will.) – Liszt insbesondere hat den groben Unfugparagraphen so eng ausgelegt, dass nur Handlungen darunterfallen, die direkt und unmittelbar-physisch die Sinne (d. h. „Geruch, Gehör oder Gefühl“ [sic!]) verletzen. Damit bietet der Paragraph denn überhaupt keine Handhabe, etwa auch Pressschwindler, Pressverbrecher, Mystifikatoren belangen zu können. – Dass dies aber praktisch nötig ist, wird kein gerecht Denkender bezweifeln. Auch die ganz willkürliche Bestimmung, ob Unfug oder Lärm „fahrlässig” oder aber „vorsätzlich” sei, hat sich in der Praxis noch nie durchführen lassen. – Bei einer Verhandlung vor einem sächsischen Gericht wurde entschieden, dass ein Bursche, der auf der Strasse mit einem cri-cri Lärm vollführte, nicht strafbar sei. Es lasse sich kein „eventueller Dolus“ erweisen; man müsse vielmehr annehmen, dass der Bursche „an die Wirkung des Lärms nicht gedacht habe.” Dagegen entschied ein bayrischer Gerichtshof, auf Grund ganz der selben Ziffer, dass ein Mann bestraft wurde, der seinen Hund auf dem Spaziergang nicht an die Leine nahm, denn ein dolus eventualis liege vor, „weil der Mann ja wissen musste, dass der Hund den Verkehr stören werde.”

Ceterum censeo: § 360, 11 ist willkürlich, unbestimmt, praktisch unbrauchbar. Mit den Begriffen „grober Unfug” und „dolus eventualis” verleitet er zu traurigstem Unrecht. Gegen Lärm aber bietet er überhaupt keine Handhabe, oder nur eine so schwache, dass ich jeden warne, auf Grund des Strafgesetzes zu klagen.


3.
Bürgerl. Gesetz § 906 und 907.

Eine allerliebste Erheiterung bietet eine psychologische Entdeckung des deutschen Reichsgerichts. Eine Entdeckung, dank deren der schwache Rechtsschutz, den § 906 und 907 des bürgerlichen Gesetzbuches in einzelnen Fällen geleistet haben, schliesslich völlig totgeschlagen werden kann. – Es ist die richterliche Erfindung des „normalen Durchschnittsmenschen.“ – Diese unbezahlbare Verlegenheitsinstanz muss vor dem deutschen Reichsgericht überall herhalten, wo man das Manko der Gesetzgebung und die traurige Unzulänglichkeit des juristischen Begriffs der „sachlichen Immission” gegenüber hygienischen und physiologischen Schädigungen, noch nicht einsehen und eingestehen will.

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Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)