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vertreten worden, ohne dass sich alsbald der Mob darüber hergemacht, das Gemeine damit liiert und irgend eine vulgäre Politik der „Interessen“ sich darangehängt, sie vertrübt, verbogen oder gar verlächerlicht hätte? Die allgemeine Form, in der dies zu geschehen pflegt, ist immer diese, dass die ideale Macht der abstrakten Sphäre enthoben und neuerdings mit groben faktischen Zwecken und konkreten Bedürfnissen verknüpft wird, deren Abstreifen und Dahintenlassen gerade das Wesentliche der tragenden Sehnsucht gewesen war. Auch jetzt noch wird zwar ein ideelles Bedürfnis befriedigt; aber es geschieht sozusagen in handfester, plump primitiver Form. In diesem Verhältnis steht z. B. aller Aberglaube (vom Animismus und Schamanismus unentwickelter Völker bis hinan zu okkulter Mystik und roh konkreter Metaphysik), – zu dem elfenzarten, schmetterlingsleichten Himmelskinde Religion. In diesem Verhältnis „psychischer Verschiebung“ oder „Konkretierung“ stehen mannigfache Formen von Zwangneurose zur „Religiosität“. Der höchste Aufschwung, mächtigste Überschwang, dessen der Mensch fähig ist, wird wieder herabgezerrt in die dumpf gewohnte Bahn kausaler, naturalistischer Weltorientierung. Dem nun analog besitzt die Musik ihr karikierendes „Afterbild”: den Lärm.…


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Alle dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben, womit der Mensch seine Aktionen zu begleiten pflegt, steigt, so gut wie Sprache und Musik, aus vitaler Notwendigkeit empor. Daher würde aller Kampf wider die Lärmseite des Lebens nicht um einen Schritt voran bringen, wenn wir nicht zuvor die seelischen Untergründe sondieren, in denen all das geräuschvolle Tosen des Lebens notwendig verankert liegt. Denn die schönste Musik wie der schrecklichste Lärm, die reinste Religiosität wie die krauseste Mystik, die poetisch verklärte Liebe, wie gemeine sexuelle Obszönität, – sie wurzeln an ganz der selben Stelle, in der selben untersten Tiefe der menschheitlichen Seele. Nur die bergenden, nährenden Bodenschichten, durch die diese seelischen Wurzelkräfte aus dem selben Keime hervorbrechen, färben und wandeln, vertrüben oder läutern ihre Wesensnatur so entscheidend, dass schliesslich an der einen Stelle des Lebens eine weltferne, zarte Himmelsblume, an der andern ein ekles beschämendes Zwittergewächs emportaucht.… Mit der oft gehörten Behauptung freilich, dass hinter allem Lärme ein „Kampf ums Dasein“ und gegenseitiges Erschrecken, Besiegen oder Sichbehauptenwollen stehe, ist im Grunde gar nichts gesagt. Und auch damit nicht, dass man betont, hinter allem Menschengelärme wohne die

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)