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Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492

22. Kapitel.

Die Flurglocke schellte, lange, anhaltend. Dann klopfte es. Werres wandte sich der Tür zu, so müde, so gleichgültig. – „Herein!“ – Es war der Sanitätsrat. Die Herren begrüßten sich und Werres nötigte seinen Gast in einen Sessel. Er hatte die Lampe auf den Mitteltisch gestellt und setzte sich auf einen der Rohrstühle, weit weg von dem hellen Lichte, das er heute fürchtete. Doch wie immer klang seine Stimme leidenschaftslos ruhig.

„Herr Sanitätsrat, ich habe Sie hergebeten, um Ihnen an dem heutigen Abend eine Person zu zeigen, der Ihr und mein Interesse jetzt länger als acht Tage ausschließlich gehört. Wen ich meine, wissen Sie wohl …“ Der alte Herr war aufgesprungen.

„Sie … Sie?“ … – Dr. Friedrichs brachte kein zusammenhängendes Wort heraus.

„Bitte, keine unnötige Aufregung, Herr Sanitätsrat,“ sagte die müde Stimme. – „Ich habe Ihnen gestern vormittag versprochen, den Mörder Ihres Bruders der Gerechtigkeit auszuliefern – morgen wird es geschehen. Und heute sollen Sie selbst sich überzeugen, daß es einen Doppelgänger des Baron von Berg gibt!“

Dr. Friedrichs starrte mit beinahe entsetzten Augen auf Werres.

„Sie wollen mir den Mörder zeigen …? Sprechen Sie nicht in Rätseln, ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor?!“ – Er war noch einen Schritt näher getreten.

Werres hatte ruhig seine Uhr gezogen, ohne auf die Frage des Sanitätsrats zu antworten. – „Es ist sieben – wir haben noch eine Stunde Zeit und die wollen wir, wenn es Ihnen recht ist, dazu benutzen, um in einem stillen Winkel eines Restaurants zu Abend zu speisen. Sie sind doch noch vor Tisch, Herr Sanitätsrat? – Dann wollen wir aufbrechen. Nachher erzähle ich Ihnen das Nötige.“

Dann saßen die beiden Herren bei Helfrich, und während sie ihre Abendmahlzeit einnahmen, hatte Dr. Friedrichs Zeit, seinen ziemlich wortkargen Begleiter auszufragen. Aber soviel er auch in Werres drang, den Namen des Täters nannte dieser ihm nicht. „Sie werden ihn morgen erfahren – morgen vormittag. Und ehe ich’s vergesse – bitte, wollen Sie morgen vormittag um 11 Uhr in das Bankgeschäft kommen, aber nicht früher, ganz pünktlich! Ich habe mir einen Plan zurecht gelegt und der muß bis in die feinsten Teile genau nach meinen Absichten ausgeführt werden! Eine geringe Abweichung kann uns um den Erfolg bringen, den ich neben der Überführung des Mörders erreichen will: An demselben Orte, wo Ihr Bruder so hinterlistig ermordet wurde, soll der Verbrecher die Tat eingestehen – und er wird es tun, Herr Sanitätsrat! Dann wird mein Erfolg erst ein ganzer sein, wenn er freiwillig seine Tat bekennt! –“ Der Sanitätsrat hatte ihm atemlos zugehört.

„Herr Doktor … wenn ich nicht ein reines Gewissen hätte, weiß der Himmel, ich würde heute Angst vor Ihnen haben.“ – Und ein scheuer Blick traf Werres, ein Blick, in dem sich Bewunderung und etwas wie leise Abneigung mischte … Dr. Friedrichs schaute dann in Gedanken vor sich hin.

„Ihr seid doch merkwürdige Menschen, ihr Kriminalisten,“ – meinte er dann kopfschüttelnd. „Wenn man euch so auf der Fährte eines Wildes beobachtet, diese fast grausame Hartnäckigkeit sieht, diesen Scharfsinn bewundert, dem jedes Mittel recht ist, um die Vermutung zum sicheren Beweis umzuformen, dann weiß man wirklich nicht: Lebt in eurer Brust dasselbe Empfinden, wie in der anderer Menschen, oder macht euer Beruf aus euch diese harten gefühllosen Verfolger eurer Mitmenschen, die ihr hetzt und jagt, bis sie um Gnade winselnd, ermattet niedersinken … Ein eigener Beruf …!“

In Werres Gesicht war eine plötzliche Veränderung vorgegangen. – „Also auch Sie als Arzt sogar haben diese Meinung von uns?! Gefühllos …?! – Wer sagt Ihnen das?! Ich – und wohl jeder von uns hat Stunden durchlebt, in denen er einen harten Kampf bestehen mußte – in denen die Pflicht und – wie Sie sagen – das Gefühl miteinander stritten! Ich werde Ihnen eines sagen, Herr Sanitätsrat: Heute, heute bevor Sie kamen, habe ich zum erstenmal diesen Kampf in meiner Brust gespürt; da zerrte die Pflicht hierhin und – das Gefühl dahin … Der Kampf war nicht leicht! Ich weiß, ich halte ein Menschenleben in meiner Hand, ich kann es vernichten – ich kann aber auch schweigen – und dann soll die irdische Gerechtigkeit zusehen, wie sie Ihrem Wahrspruch gerecht wird: Auge um Auge, Zahn um Zahn! – Ein Mensch, der grausam mit so kaltblütiger Überlegung einen anderen hinmordet, der ist kein Mitleid wert! Für den – Gefühl zu zeigen, hieße ein Narr sein! – Nein, ein Mörder ist diese Qualen nicht wert, die ich heute erduldet, als ich daheim an meinem Schreibtisch saß, vor mir die Beweise, die ihn vernichten sollten … – Aber es gibt noch andere Menschen, unschuldige Wesen, die mit dem Schuldigen leiden … Nicht an die Todesangst des überführten Verbrechers denken wir – wir denken an die, die ihm vielleicht nahe stehen, die nicht ahnen, daß der Sohn, Bruder, Gatte oder Geliebte dem Gesetz verfallen

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Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492. Berliner Central-Verlag, Berlin 1908, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Doppelg%C3%A4nger.pdf/45&oldid=- (Version vom 31.7.2018)