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Ein hoher Grad von Großmuth und Gastfreundschaft ist überhaupt der polnischen Nation nicht abzusprechen, und sie wissen damit eine Grazie und Ritterlichkeit zu verbinden, welche selbst bei den unteren Schichten der Bevölkerung deutlich zu erkennen ist. So werden sie z. B. selten einen alten, contrakten Diener verstoßen, sondern ihn bis an sein Ende hegen und pflegen. Auch wird es sich der Pole stets zur Ehre und Pflicht machen, seinen Gast mit ganz besonderer Auszeichnung zu bewirthen.

Vierzehn Tage nach meinem Antritte reiste Miß M. von P… ab, nachdem sie einige Anerbietungen, hier zu bleiben, ausgeschlagen hatte. Sie war ein unverdorbenes Wesen mit zarten Regungen, deren tiefe Verletzung besonders Seitens des jungen Grafen ihr den hiesigen Aufenthalt verleidete. Sie hatte in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft meine Achtung in vollem Grade erworben und schied, begleitet von meinen Glück- und Segenswünschen. – Wie bange war mir um’s Herz, als ich nach so langem Mangel an Umgang mit einer reinen, schönen Seele schon so schnell wieder entrückt von ihr, in das Chaos moralischer Verwilderung mich zurückgestoßen wußte. Ach, es gab Momente, wo ich mein bisheriges Loos ein beneidenswerthes nennen durfte.

Leider fand ich Miß M.’s Worte, was das moralische Verhältniß von Mutter und Tochter, so wie das Verhalten des jungen Grafen in und außer dem Hause anbetraf, nur zu wahr, und meine Versuche, dem Fräulein pflichtgemäß der Stellung, die ich begleitete, andere Tendenzen einzuflößen, wurden mit Hohn und Spott zurückgewiesen, so daß ich fernerhin zum Schweigen genöthigt war, und von nun an auch darauf dachte, mich in dieser Hinsicht besser, wenn auch bescheidener, zu placiren.

Mitte Mai reisten wir auf die Güter des Grafen nach K., welche in jeder Beziehung ein sonderbares mixtum compositum von Geiz, Verschwendung, Prachtliebe und Schmutzerei, Ordnung und Liederlichkeit bildeten. In diesen Dissonanzen fühlte man die Thätigkeit zweier heterogener Naturen, von denen der Graf das bessere, die Gräfin das böse Prinzip vertrat, sehr deutlich heraus. – Die eine Hälfte der Besitzung war ziemlich verwahrlost, während sich die andere durch Neuheit und Eleganz auszeichnete, ähnlich der inneren Einrichtung des herrschaftlichen Sitzes, von welchem die Gesellschaftszimmer mit großer