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Stiege passirt hatte, öffnete auf wiederholtes Läuten ein Mann in Kochkünstlertracht die Thür und führte mich auf mein Begehren augenblicklich in eigner Person zu meiner neuen Prinzipalin, der Gräfin *, nachdem wir erst Küche und Schlafzimmer zu durchlaufen hatten, um das Wohnzimmer der gnädigen Frau zu erreichen.

Gräfin *, eine Dame von wahrhaft kolossalen Dimensionen, befand sich in Gesellschaft ihrer circa vierzehnjährigen Tochter nebst meiner Vorgängerin, einer hübschen, sehr jungen Person, die ich auf’s erste Wort als eine Engländerin erkannte.

Die Gräfin empfing mich mit wahrhaft bezaubernder Freundlichkeit und Herablassung, sie beseitigte sofort alle Formalität und forderte mich auf, sie ganz einfach „Madame“ zu tituliren. Auch machte sie komische Andeutungen über ihre ungastliche Interimswohnung, welche sie nur die Zeit über benutze, wo der Graf den B… Landtag besuchen müsse, während sie die übrige Zeit in der Regel auf den Gütern zubringe.

Hierauf stellte sie mir ihre einzige Tochter H… und Miß M., ihre bisherige Gouvernante, vor, die ihr sonst hübsches Gesichtchen in verdrießliche Falten zu legen beliebte. Die Mittagsstunde war nahe, weshalb ein polnischer Bedienter einen kleinen Tisch zwischen den Betten, wo wir saßen und standen, servirte, und mit einem einfachen, aber schmackhaften Mahle besetzte, nach dessen Beendigung der junge Herr Graf erschien – eine in der That interessante und ihrem Aeußeren nach höchst vortheilhafte Erscheinung, – der mit ziemlicher Virtuosität Pianoforte im Nebenzimmer spielte. Die gnädige Frau lauschte den Tönen mit sichtbarem Interesse; Miß M. stand dagegen während dieser Zeit am Fenster, ihre Blicke unverwandt auf einen Punkt der Straße gerichtet, welche Situation sie plötzlich mit einem kaum merklichen Kopfnicken unterbrach und sich dann schnell vom Fenster wegwandte. So unbedeutend dieser Umstand für den Augenblick war, so gab er mir doch bezüglich späterer Erfahrungen, welche ich in dieser Familie machte, einige Aufschlüsse. Ihr Gruß galt einem schönen jungen Manne.

Nachdem wir den übrigen Theil des Tages mit Promeniren, Soupiren und Schwatzen zugebracht hatten, wurde mir mit Miß M. zusammen ein Schlafcabinet angewiesen, was mir um so angenehmer war, weil ich durch letztere vielleicht einiges Nähere über die neue Herrschaft hören würde.

Miß M. wich anfänglich meinen hierauf bezüglichen Fragen aus;