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nicht zu wecken, die jetzt alle schlafen. Auf einmal sah er in einer Ecke das Bild hängen, aber nicht als Brustbild wie früher, sondern in Lebensgröße; es sah ihn neckend, mit schelmischen Blicken an; es trat lebendig aus dem Rahmen und umarmte den Unglücklichen; er fühlte einen heißen, langen Kuß auf seinen Lippen. Wie es zu geschehen pflegt, daß man im Traum zu erwachen glaubt und träumend sich sagt, man habe ja nur geträumt, so schien es auch jetzt dem jungen Mann zu gehen. Er glaubte, von dem langen Kuß erweckt, die Augen zu öffnen, und siehe, auf ihn niedergebeugt hatte sich ein blühendes, rosiges Gesicht, das ihm bekannt schien. Vor Lust des süßen Atems, der liebewarmen Küsse, die er einsog, schloß er wieder die Augen; er hörte ein Geräusch, er schlug sie noch einmal auf und sah eine Gestalt in schwarzem Mantel, schwarzem Hütchen mit grünem Schleier entschweben. Als sie eben um eine Ecke biegen wollte, kehrte sie ihm noch einmal das Gesicht zu: es waren die Züge des geliebten Mädchens, und neidisch wie damals hatte sie auch jetzt die Halbmaske vorgenommen. „Ach, es ist ja doch nur ein Traum!“ sagte er lächelnd zu sich, indem er die Augen wieder schließen wollte; aber das Gefühl, erwacht zu sein, das Säuseln des Windes in den Blättern der Laube, das Plätschern des Springbrunnens war zu deutlich, als daß er davon nicht völlig wach und munter geworden wäre. Das sonderbare, lebhafte Traumbild stand noch vor seiner Seele; er blickte nach der Ecke, wo sie verschwunden war, er sah die Stelle an, wo sie gestanden, sich über ihn hingebeugt hatte, er glaubte die Küsse des geliebten Mädchens noch auf den Lippen zu fühlen. „So weit also ist es mit dir gekommen“, sprach er erschreckend zu sich, „daß du sogar im Wachen träumst, daß du sie bei gesunden Sinnen um dich siehst! Zu welchem Wahnwitz soll dies noch führen? Nein, daß man so deutlich träumen könne, hätte ich nie geglaubt. Es ist eine Krankheit des Gehirns, ein Fieber der Phantasie; ja, es fehlt nicht viel, so möchte ich sogar behaupten, Traumbilder können Fußstapfen hinterlassen; denn diese Tritte hier im Sande sind nicht von meinem Fuß.“ Sein Blick fiel auf die Bank, wo er gelegen, er sah ein zierlich gefaltetes Papier und nahm es verwundert auf. Es war ohne Aufschrift, [357] es hatte ganz die Form eines Billetdoux; er zauderte einen Augenblick, ob er es öffnen dürfe; aber neugierig, wer sich hier wohl in solcher Form schreiben könnte, entfaltete er das Papier – ein Ring fiel ihm entgegen. Er hielt ihn in der Hand und durchflog den Brief; er las: „Oft bin ich Dir nahe, Du mein edler Retter und Wohlthäter; ich umschwebe Dich mit jener unendlichen Liebe, die meine Dankbarkeit anfachte, die selbst mit meinem Leben nicht verglühen wird. Ich weiß, Dein großmütiges Herz schlägt noch immer für mich, Du hast Länder durchstreift, um mich zu suchen, zu finden; doch umsonst bemühst Du Dich – vergiß ein so unglückliches Geschöpf; was wolltest Du auch mit mir? Wenn auch mein höchstes Glück in dem Gedanken liegt, ganz Dir anzugehören, so kann es ja doch nimmermehr sein! Auf immer! sagte ich Dir schon damals, ja auf immer liebe ich Dich, aber – das Schicksal will, daß wir getrennt seien auf immer, daß nie an Deiner Seite, vielleicht nur in Deiner gütigen Erinnerung leben darf

Die Bettlerin vom Pont des Arts.“     

Der junge Mann glaubte noch immer oder aufs neue zu träumen; er sah sich mißtrauisch um, ob seine Phantasie ihn denn so ganz verführt habe, daß er in einer Traumwelt lebe; aber alle Gegenstände um ihn her, die wohlbekannte Laube, die Bank, die Bäume, das Schloß in der Ferne, alles stand noch wie zuvor, er sah, er wachte, er träumte nicht. Und diese Zeilen waren also wirklich vorhanden, waren nicht ein Traumbild seiner Phantasie? „Hat man vielleicht einen Scherz mit mir machen wollen?“ fragte er sich dann. „Ja gewiß, es kömmt wohl alles von Josephe; vielleicht war auch jene Erscheinung nur eine Maske?“ Indem er das Papier zusammenrollte, fühlte er den Ring, der in dem Briefchen verborgen war, in seiner Hand. Neugierig zog er ihn hervor, betrachtete ihn und erblaßte. Nein, das wenigstens war keine Täuschung, es war derselbe Ring, den er dem Mädchen in jener Nacht gegeben, als er auf immer von ihr Abschied nahm. So sehr er im ersten Augenblick versucht war, hier an übernatürliche Dinge zu glauben, so erfüllte ihn doch der Gedanke, daß er ein Zeichen von dem geliebten Wesen habe, daß sie ihm nahe sei, mit so hohem Entzücken, daß er nicht mehr an die Worte des Briefes

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 356–357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_181.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)