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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.

hatte es gewelkt. Vaterlandsliebe konnte den nicht begeistern, der kein Vaterland hatte, sondern einen Herrn. Kein befreytes Athen winkte dem Künstler, seinen Harmodius für die Nachwelt zu bilden, keine Amphiktyonen erwiesen ihm Ehre im Namen des großen Völkerbunds. Im Stahl der Rüstung, unter den unförmlichen Wolken der nordischen Kleidung suchte sein forschender Blick vergebens den Menschen; die Helden seines Zeitalters bargen vergebens ihre Blöße in diesen barbarischen Hüllen; Griechenlands Heroen waren edler und schöner in ihre Tugend gekleidet. Selbst im Heiligthum der Tempel wartete des Künstlers kein belebendes Feuer, das ihn höher als der griechische Anthropomorphismus entzückte. Im Schönsten und Besten alles Sichtbaren, in der menschlichen Form, deren erhabenste Reize die griechische Kunst den Göttern verlieh, in idealischen Verhältnißen, die den Glauben an mehr als menschliche Vollkommenheit versiegelten, sah und empfand man den gegenwärtigen Gott; in den unentwickelten Gliedern des Säuglings, in der Quaal des gefolterten Dulders bleibt die Darstellung des Göttlichen ein unauflösbares Problem. Doch hinweg mit diesen Spielen der Phantasie, aus dem Jugendalter der Menschheit; hinweg mit jedem kindischen Versuch, den reinen Vernunftbegrif in sinnliche Symbole zu bilden! Seitdem den Völkern der vier Welttheile die hohe Offenbarung: Gott ist ein Geist! gepredigt wird, entweiht ein Bild die heilige Stätte, wo man reingeistiges Urwesen verehrt.

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1790–1791, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band3_Heft9_107.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)