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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

einem Chor Nachtigallen, deren Musik wie lauter reingestimmte Silberglocken klang, zu einem neuen herrlichen Leben aufgeweckt würde.

Ich gieng in die Schloßkapelle, freute mich über die Andacht, welche überall in dem niedlichen, hellen Gewölbe zu herrschen schien, und betete das schönste Gebet, dessen das menschliche Herz fähig ist, das heißt, ich war munter und vergnügt. Als die Leute weggegangen waren, besah ich das bekannte Gemählde am Hauptaltar, dessen Colorit mir wegen der ausserordentlichen Lebhaftigkeit gefiel, ungeachtet ich in der Darstellung selbst weder scharf gezeichnete Charactere noch hohe Würde entdecken konnte. Ueberhaupt muß ich dir gestehen, daß mich bisher nur wenige Gemählde befriediget haben, so sehr manche auch von Kennern gelobt wurden. Erstaunenden Fleiß sah ich oft, aber selten jenen schöpferischen großen Geist, der allein in den schönen Künsten herrschen sollte, und ohne welchen alles Zeichnen, Mahlen und Dichten nichts als Zeitverderb und Tändeley zu seyn scheint. Was kümmerts mich, ob der Meister irgend ein Thier oder eine Blume genau nach der Natur copiren kann, wenn ich nicht in jedem seiner Pinselstriche erkenne, daß sein Character edel, sein Herz groß und tieffühlend, sein Verstand

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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_278.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)