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geben können. Und weil Sie so ehrlich sind, Herr von Egidy, –“ er wandte sich mit einer kleinen Kopfneigung zu dem neben ihm stehenden, „darum lassen Sie sich auch unsere ehrliche Antwort gefallen: rechnen Sie nicht auf unsere Stimmen. Sie sind ein braver Mann – Sie mögen allerlei brave Leute hinter sich haben, – aber unsere Sache bedarf solcher Kerle, wie wir sind – die den Dreschflegel und den Hammer – ‚die schlechten Waffen!‘ – zu führen gelernt haben, denen die Maschine die Glieder zerriß, –“ er hob die Krücke wie ein Trophäe – „an deren Leibern die Tuberkelbazillen fressen“ – er reckte den mageren Arm in die Höhe. „Neunzehnhundert Jahre haben wir gewartet, daß Eure christlichen Liebes- und Barmherzigkeitspredigten uns helfen möchten, – jetzt ist unsere Geduld erschöpft. Und wenn Euch unsere Waffen nicht ritterlich genug sind, – Ihr selbst seid daran schuld, daß wir sie brauchen müssen!“ –

Die Augen des Redners weiteten sich, sie sahen ekstatisch in die Ferne, hinweg über die Menschen unter ihm, die Krücke fiel krachend zu Boden, und die Arme streckten sich aus. Still war’s sekundenlang, man hörte nur die eigenen Atemzüge, – dann brach es los: „Hoch Genosse Reinhard“ – „Hoch die Sozialdemokratie“ – „Nieder der Militarismus“, – und plötzlich vereinigten sich die durcheinanderschreienden Stimmen zu einem einzigen vollen Gesang: der Schritt heranrückender Massen, die überwältigende Einheit eines beherrschenden Gefühls, die rücksichtslose Kraft der Jugend lag darin.

„Kommen Sie –“ sagte Polenz leise. Wie aus einem Traume sah ich auf. Der Saal war schon halb leer.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/600&oldid=- (Version vom 31.7.2018)