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Fanatismus, und ich muß mir immerfort das Gebot der Toleranz und die Pflicht, leidenschaftslos zu urteilen, vorhalten. Von dem Augenblick an, daß man sich klar wird, – es mag vielleicht paradox klingen, aber die meisten werden sich wirklich niemals klar darüber! –, daß jenes in Schmutz, Hunger und Stumpfheit aufgewachsene Fischerkind auch ein Mensch ist, genau wie man selber, kein fremdartiges Geschöpf, – von dem Augenblick an beginnt man überhaupt erst zu sehen. Und wenn mir jetzt vorgehalten wird: die Leute empfinden ihr Elend nicht, – so kann ich mich nicht mehr dabei beruhigen. Ich fühle vielmehr, – und fühls mit allen Schmerzen peinigenden Selbstvorwurfs, – daß gerade dies, was ein Trost sein soll, das größte Unglück ist und jeder einzelne von uns die Verantwortung dafür trägt.

Das Erwecken der Menschen zu dem Bewußtsein ihres Elends ist sicher der erste Schritt zu ihrer Erhebung, und wenn ich jetzt den ‚Vorwärts‘, dank Ihrer Güte, regelmäßig lese, so scheint mir das Hauptverdienst der Sozialdemokratie darin zu bestehen, daß sie überall die Sturmglocke läutet. Womit ich mich aber nicht befreunden kann, – das ist die unterschiedslose Verdammung aller Bestrebungen, die nicht von vornherein rot abgestempelt sind. Warum entdeckt der Vorwärts nicht, wie Dr. Brandt, die ‚Ströme, die in sein Meer fließen‘? So ist sein Angriff auf die Ethische Bewegung ebenso töricht wie ungerecht. Er müßte uns wahrhaftig von Bildungsanstalten Richterscher und Stöckerscher Art unterscheiden können! Und warum Haß und hämischen Neid gegen die einzelnen Mitglieder anderer Klassen groß ziehen,

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/551&oldid=- (Version vom 31.7.2018)