Seite:De Memoiren einer Sozialistin - Lehrjahre (Braun).djvu/529

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nicht. Sie waren ja vor mir auf dem Schlachtfelde, – ich weiß das recht gut. Die Frage wird schließlich einfach die sein: wer der Menschheit zumeist genützt haben wird, – Ethische Gesellschaft oder Angewandtes Christentum. Sie beantwortet sich allenfalls heute schon daraus: womit begründet jemand seine Ansprüche an die Gemeinsamkeit wirksamer: indem er auf Grund ethischer Prinzipien – ‚neuer Werte‘ – fordert, oder indem er auf Grund des ‚gerade von euch, ihr Herren‘ gepredigten Christentums, im Namen des Jesus von Nazareth verlangt? …“

„Auch ich will, daß etwas wird,“ antwortete ich ihm, „aber ich sehe nicht, daß wir, die wir jede gewaltsame Durchsetzung neuer Zustände ablehnen, dieses Werden anders fördern können, als durch ‚reden‘, ‚erziehen‘, ‚predigen‘, das heißt durch Verbreitung neuer Ideen. Sie tun doch auch nichts anderes! Und Sie werden mir gewiß zugeben, daß Reden – ‚bloß reden‘ (!) – eine mutigere und an Folgen reichere Tat sein kann, als Schlachten schlagen. Auf diese Folgen kommt es an, sagen Sie, und wieder finden Sie mich auf Ihrer Seite. Wenn ich aber wirklich zuweilen traurig – niemals lächelnd! – den Kopf schüttele, so nur deshalb, weil ich überzeugt bin, daß die Folgen der von Ihnen ins Leben gerufenen Bewegung größere sein würden, wenn Sie sich anderer Mittel bedienten. Die ursprüngliche Lehre Jesu mag mit Ihren Ansichten übereinstimmen – das zu entscheiden wäre Sache gelehrter theologischer Forschung –, aber das, was heute die ganze Welt unter Christentum versteht, ist etwas im Laufe der Jahrhunderte historisch Gewordenes, das umzustoßen viel mehr

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/529&oldid=- (Version vom 31.7.2018)