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würde? War Egidy der Mann, der es aussprechen sollte?

Ich hatte inzwischen die Bücher Glyzcinskis gelesen: seine eigene Moralphilosophie und die Schriften der Gründer und Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas und Englands. Sie vertraten die Einheit der Moral gegenüber der Vielheit der Religionen, sie waren überzeugt, daß alle Menschen, die ernstlich das Gute wollen, sich, unabhängig von ihren verschiedenartigen transzendenten Anschauungen, auf dem Boden allgemein gültiger Ethik zu dem großen Werk sittlicher und sozialer Reform vereinigen könnten. Über Gott und den Göttern stand für sie das Absolute, die Moral; denn nicht darum ist das Gute gut, sagten sie, weil Gott es seinen Gläubigen zu tun befiehlt, er befiehlt es vielmehr, weil es gut ist, also muß auch für die Gottgläubigen das Gute das Allumfassende sein. Sie selbst stellten für das sittliche Handeln keine Einzelvorschriften auf, sie erkannten vielmehr als dessen Richtschnur und Prüfstein das größtmögliche Glück der größten Mehrzahl.

Auf mich wirkten diese Werke wie eine Offenbarung: hier war das erlösende Wort, das nicht nur all die auf Seitenwegen Umherirrenden zusammen rufen und dem gemeinsamen Ziel entgegenführen würde, hier war der Zauberstab, der aus den Felsenherzen der Menschen lebendige Brunnen tatkräftigen Wirkens hervorlocken könnte; hier breitete sich vor meinen inneren Augen jungfräulicher Boden aus, den ich mit zu roden und zu bebauen bestimmt schien. Eine Ethische Gesellschaft in Deutschland zu gründen, die das öffentliche Gewissen

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/520&oldid=- (Version vom 31.7.2018)