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Zauderpolitik liess sich durchführen, weil die Ereignisse sich nur langsam entwickelten. In den Nachrichten aus Paris, in Humboldt’s Depeschen und seinen eigenen Reflexionen kommt dieses ständige Schwanken zwischen Friedensversicherungen und Kriegsdrohungen deutlich zum Ausdruck, obgleich Humboldt, wie alle anderen Staatsmänner, nicht zweifelte, dass über kurz oder lang der Kampf ausbrechen würde. Mit Bedauern verfolgt er vor allem die Schritte der Russischen Regierung; er meint, die beiden Höfe von Wien und Petersburg hätten vollständig die Rollen von 1805 gewechselt, aber alle Russischen Versuche, Oesterreich in den Kampf zu treiben, seien ganz fruchtlos, im Gegentheil, die Kluft zwischen beiden Staaten vergrössere sich durch die Besetzung Serbiens, durch das Oesterreichs Handel überaus schädigende Verbot des Transithandels und durch andere Vorkommnisse[1].

Wie die Lage in der Mitte des Jahres 1811 war, lässt ein Bericht Humboldt’s vom 6. Juni klar erkennen. Er wiederholt, was er oft schon gesagt, dass der Wunsch des Kaisers und des Ministeriums die Neutralität sei; im gegenwärtigen Augenblick würden sogar dringende Anerbietungen zur Allianz abgelehnt werden, aber sicher sei, wenn der Wiener Hof fortfährt, wie er jetzt handle, werde er später wider seinen Willen gezwungen werden, den Impulsen Frankreichs zu folgen[2]. Oesterreich befände sich seit dem Wiener Frieden in einem Zustande der Schwäche, der keine Anstrengungen erlaube; die Schwäche wäre nur momentan gewesen, wenn die Regierung versucht hätte, mit Weisheit, Kraft und Festigkeit die noch vorhandenen Kräfte der Monarchie zu consolidiren. Es fehle absolut an Einheit und selbst an Thätigkeit; man habe grosse Fehler begangen, ohne sie wieder gut machen zu können; und wenn man mehr Opulenz und Wohlleben in dem Lande entdecke, als man nach der schrecklichen Katastrophe erwarten sollte, so verdanke das Land dies seinen eigenen Hilfsquellen, nicht den Massregeln der Verwaltung. Kurz, man habe keineswegs ein politisches System adoptirt, das die geringste Garantie irgendwelcher Unabhängigkeit bieten könne, und man gerathe in die gegenwärtige Krisis Europas hinein, ohne

  1. Bericht vom 22. Mai 1811.
  2. Vgl. Ompteda 2, 49.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1895, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1895_12_102.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)