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spielen hier zweifellos eine Rolle, aber keineswegs die entscheidende. Ein Volk wird durch die Cultur erzogen, die Cultur bildet sich den nationalen Charakter, viel mehr als dass der nationale Charakter die Cultur und die aus der Cultur erwachsenden socialen Bildungen bestimmt. Der Volkscharakter spielt gleichsam die Rolle des Metalls, aus dem das Kunstwerk des socialen Baues geschmiedet wird.

Ein culturgeschichtlicher Umschwung bedingt nun unzweifelhaft die verfassungsgeschichtliche Entwicklung, deren erste Phasen hier gezeichnet sind. Durch den Uebergang von Naturalwirthschaft zu Geldwirthschaft wird er nicht ausreichend charakterisirt. Neben dem Geld spielt die Schrift und das Rechnen die entscheidende Rolle. Der Germanische Laienstaat, der sich auf die uncontrolirte Treupflicht seiner Beamten verlassen musste, verschaffte sich in Geld, Schrift und Rechenkunst die Hilfsmittel der Controle seiner Beamten, die ihm bisher gefehlt hatte.

Es sind dies Hilfsmittel städtischer Cultur, die er sich mit dem Aufblühen städtischen Lebens zu eigen machte – auch ohne Nachahmung eines fremden Vorbildes – auch ohne Reception. Aber allerdings hat die Nachahmung eines fremden Musters die Entwicklung gefördert und modificirt: sie gibt zwar nicht den entscheidenden, aber einen mitbestimmenden Factor in der Entwicklung der Dinge.

Wie die heutige, specifisch so genannte sociale Frage in England, Deutschland, Frankreich und Amerika jeweilig verschieden auftritt, und doch im Wesen dieselbe ist, so ist es auch dieselbe sociale Bewegung, welche in den verschiedenen Staaten Europas den Feudalstaat des Mittelalters gestürzt hat. Und wie heute die Stände verschiedener Staaten, und die Staaten selbst ihre Einrichtungen gleichsam zur Vereinfachung des Verfahrens nachahmen, so geschah es auch im Mittelalter. Eine viel grössere Rolle, als die Reception staatlicher Einrichtungen hat die Reception städtischer Verfassung und städtischen Privatrechts von Stadt zu Stadt, von Land zu Land gespielt: die sociale Frage, welche damals die Völker bewegte, war zugleich eine Frage der Organisation staatlicher Arbeit und der Organisation wirthschaftlicher privater Arbeit. Ihre Lösung fand sie hier wie dort in einer Aenderung der Verhältnisse von Capital und Arbeit, hier

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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_05_026.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2022)