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Die Religion der Griechen und Römer, des Heidenthums, sie gründete sich in ihrem Ursprunge auf eine unvollkommene und falsche Anschauung der Naturerscheinungen; ihr Geist, ihr Auge war der Erkenntniss der nächstliegenden Ursachen von Naturwirkungen verschlossen; sie richteten ihre Gebete an rohe Naturgewalten. Ein jeder Aberglaube versetzt uns in das Heidenthum.

Darin liegt eben der hohe Werth und die Erhabenheit der Naturerkenntniss, dass sie das wahre Christenthum vermittelt. Darin liegt das Göttliche des Ursprungs der christlichen Lehre, dass wir den Besitz ihrer Wahrheiten, die richtige Vorstellung eines über alle Welten erhabenenen Wesens, nicht dem menschlichen Wege der empirischen Forschung, sondern einer höheren Erleuchtung verdanken.

Der Raum, in dem sich die Weltsysteme bewegen, ist ohne Grenze; was wäre ausserhalb einer solchen Scheidewand? Die Anzahl der Welten ist unendlich gross, sie ist durch Zahlen nicht ausdrückbar; der Lichtstrahl legt in einer Secunde vierzigtausend Meilen zurück; ein Jahr umfasst viele Secunden; es giebt Fixsterne, deren Licht, um zu unserem Auge zu gelangen, Billionen Jahre Zeit gebrauchte. Wir kennen Thiere mit Zähnen, mit Bewegungs- und Verdauungsorganen, die dem blossen Auge eben noch sichtbar sind; es giebt Thiere, welche, messbar, viele hundertmal kleiner sind, und die nämlichen Apparate besitzen. So wie die grösseren und grössten nehmen sie Nahrung zu sich und pflanzen sich durch Eier fort, die wieder viele hundertmale kleiner als ihr eigener Körper sein müssen. Nur an unseren unvollkommenen Sehwerkzeugen scheitert die Wahrnehmung von tausendmal kleineren Geschöpfen.

Welche Abstufungen und Verschiedenheiten bieten die Bestandtheile unseres Erdkörpers in ihren Zuständen und in ihren Eigenschaften dar! Es giebt Körper, welche zwanzigmal schwerer wie ein gleicher Raumtheil Wasser, es giebt andere, welche zehntausendmal leichter sind, deren kleinste Theile durch die besten Mikroskope nicht mehr wahrnehmbar sind; wir kennen zuletzt in dem Lichte, diesem wunderbaren Boten, der uns täglich Kunde bringt von dem Fortbestehen zahlloser Welten, die Aeusserung eines ausserirdischen Wesens, welches der Schwerkraft nicht mehr folgt, und doch unseren Sinnen durch unzählige Wirkungen sich bemerkbar macht, und das Sonnenlicht selbst, mit dessen Ankunft auf der Erde die todte Natur Leben und Bewegung empfängt; wir spalten es in Strahlen, die, ohne zu leuchten, die mächtigsten Veränderungen und Zersetzungen in der organischen Natur hervorbringen; wir zerlegen es in eine Mannichfaltigkeit von Wärmestrahlen, die unter einander eben so grosse Verschiedenheiten wie die Farben zeigen.

Nirgends aber beobachten wir einen Anfang oder ein Ende.

In der Natur sieht der menschliche Geist weder über noch unter sich eine Grenze, und in dieser, für seine Kraft, ihrer Unmesslichkeit wegen, kaum fassbaren Unendlichkeit fällt kein Wassertropfen zur Erde, kein Stäubchen wechselt seinen Platz, ohne dazu gezwungen zu sein.

Nirgends ausser sich beobachtet der Mensch einen zum Bewusstsein gelangten Willen, Alles sieht er in den Fesseln unwandelbarer, unveränderlicher, fester Naturgesetze; nur in sich selbst erkennt er ein Etwas, was alle diese Wirkungen, einen Willen, der alle Naturgesetze beherrschen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_022.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)