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erzählen, wie der italienische Naturforscher eine lange, ausführliche Abhandlung darüber schrieb, dass der Schnee auf dem Aetna aus der nämlichen Substanz bestehe, wie der Schnee der Schweizeralpen, dass er eine Menge Beweise häufte, um darzuthun, dass beide beim Schmelzen Wasser von gleichen Eigenschaften und gleicher Beschaffenheit geben; und doch war dieser Schluss nicht so handgreiflich, denn wie sehr ist die Temperatur Siciliens von der in der Schweiz verschieden. Niemand hatte damals eine Vorstellung über die Verbreitung der Wärme auf der Oberfläche der Erde; und wenn ein Knabe ein gefülltes Glas mit einem losen Stück Papier verschliesst und umkehrt, ohne dass ein Tropfen Flüssigkeit herausläuft, so setzt er nur ein zweites Kind damit in Erstaunen, und doch ist es der nämliche Versuch, der den Namen Torricelli unsterblich macht; es ist eine Variation des Versuches, mit welchem der Magdeburger Bürgermeister in Regensburg Kaiser und Reich in sprachlose Verwunderung setzte. Unsere Kinder haben von der Natur und von Naturerscheinungen richtigere Begriffe und Vorstellungen, wie Plato; sie dürften zu spotten sich vermessen über die Irrthümer, welche Plinius beging.

Durch Geschichte, Philosophie und die classischen Studien erwerben wir uns Kenntniss der intellectuellen Welt, der Gesetze des Forschens und Denkens, der geistigen Natur des Menschen. Indem wir in den Seelen der grossen und guten Menschen aller Zeiten lesen, lernen wir aus den Erfahrungen vergangener Jahrhunderte, wie die Leidenschaften zu mildern und zu regieren, wie das Herz zu sänftigen; sie führen uns zum Verständniss des Menschen der gegenwärtigen Zeit, dessen moralische Natur ewig dieselbe bleibt; sie lehren uns die Grundsätze der Religion, der Wahrheit, des Rechts in die schönste Form zu kleiden und um so tieferen Eindruck auf die Gemüther Anderer zu machen. Aber die Geschichte und Philosophie konnten nicht hindern, dass man Menschen als Zauberer verbrannte; und da sich der grosse Kepler nach Tübingen begab, um seine Mutter vom Feuertode zu retten, konnte er nur beweisen, dass ihr die wahren Erfordernisse zu einer Hexe völlig abgingen.

Wie ein Samenkorn von einer gereiften Frucht, trennte sich vor siebzig Jahren die Chemie als selbstständige Wissenschaft von der Physik; mit Black, Cavendish, Priestley fängt ihre neue Zeitrechnung an. Die Medicin, die Pharmacie, die Technik hatten den Boden vorbereitet, auf welchem das Samenkorn sich entwickeln, auf welchem es gedeihen sollte.

Ihre Grundlage ist, wie man weiss, eine dem Anschein nach sehr einfache Ansicht über die Verbrennung. Wir wissen jetzt, was sich daraus entwickelt, welche Wohlthaten, welchen Segen sie verbreitet hat. Seit der Entdeckung des Sauerstoffs hat die civilisirte Welt eine Umwälzung in Sitten und Gewohnheiten erfahren. Die Kenntniss der Zusammensetzung der Atmosphäre, der festen Erdrinde, des Wassers, ihr Einfluss auf das Leben der Pflanzen und Thiere, knüpften sich an diese Entdeckung. Der vortheilhafte Betrieb zahlloser Fabriken und Gewerbe, die Gewinnung von Metallen steht damit in der engsten Verbindung. Man kann sagen, dass der materielle Wohlstand der Staaten um das Mehrfache dadurch seit dieser Zeit erhöht worden ist, dass das Vermögen eines jeden Einzelnen damit zugenommen hat.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_003.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)