Seite:Das Stundenbuch (Rilke) 072.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern
wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern
wie ein gefangenes und wundes Tier, –
die Häuser gastlich allen Einlaßklopfern

10
und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern

in allem Handeln und in dir und mir.

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,

15
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.


Auch du wirst groß sein. Größer noch als einer,
der jetzt schon leben muß, dich sagen kann.
Viel ungewöhnlicher und ungemeiner
und noch viel älter als ein alter Mann.

5
Man wird dich fühlen: daß ein Duften ginge

aus eines Gartens naher Gegenwart;
und wie ein Kranker seine liebsten Dinge
wird man dich lieben ahnungsvoll und zart.

Es wird kein Beten geben, das die Leute

10
zusammenschart. Du bist nicht im Verein;

und wer dich fühlte und sich an dir freute,
wird wie der Einzige auf Erden sein:
ein Ausgestoßener und ein Vereinter,
gesammelt und vergeudet doch zugleich;

15
ein Lächelnder und doch ein Halbverweinter,

klein wie ein Haus und mächtig wie ein Reich.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_072.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)