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Die Hölle.
(Abfassungszeit ca. 1300–1310 od. 1314.)
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Erster Gesang.[1]
Eingang: Der Wald. Die Thiere. Virgil.


1
Auf halbem Weg des Menschenlebens fand

Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom graden Weg mich abgewandt.

4
Wie schwer ist’s doch, von diesem Wald zu sagen,

Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Noth;
Schon der Gedank’ erneuert noch mein Zagen.


  1. 1. [Da der erste und zweite Gesang die Einleitung und Exposition des ganzen Werkes bilden, so sei über die göttliche Komödie im Allgemeinen zur Orientirung des Lesers Folgendes vorausbemerkt. Der seltsame Name des so ernsten Gedichtes stammt von Dante selbst gemäß alterthümlicher Eintheilung der Poesie, welche „Commedia“ ein Gedicht nennt, welches nach ernstem Anfang heiter endet. Dies trifft nun allerdings zu, wie wir gleich sehen werden. „Divina“ „die göttliche“ ist ein Beiname der bewundernden Nachwelt. – Der äußere Gang und Inhalt des Gedichts nun ist dieser. Dante macht eine Phantasie-Wanderung durch die Hölle, das Fegfeuer und das Paradies. Dabei begleiten ihn zwei Geister-Gestalten, erst Virgil, der röm. Dichter, dann Beatrix, seine eigene Jugendgeliebte. Es werden jene drei unsichtbaren Orte vom Dichter mit Insassen aller Art und aller Zeiten der Weltgeschichte, auch seine eigenen Gegenwart, bevölkert und Stufe für Stufe durchgangen und besichtigt bis hinauf vor Gottes Thron. Dabei werden im Verlauf Gespräche geführt, Strafgerichte verkündet, Seligkeiten zuerkannt, Lehren und Zeitbetrachtungen gegeben. – Daß eine solche Wanderung durch die ganze Welt, eine Art mittelalterlicher Faust, – daß eine solche visionäre Reise, wir wollen nicht sagen eine trockene Allegorie, nein, ein lebensvolles Sinnbild höherer geistiger Gedanken sein müsse, das wird sich jeder Leser selbst sagen. Welches sind aber diese Gedanken? Dieselben müssen natürlich im Gedankenkreis des Dichters, in seiner Welt- und Zeitanschauung liegen, welche Dante zum Glück in andern Werken deutlich genug niedergelegt hat. („Neues Leben“ „Vom Staat“ etc.). Hiernach war es vor allem ein Jugendgelöbniß von ihm, seiner frühentrissenen Geliebten und dem reinigenden, beseligenden Einfluß ihrer Liebe ein poetisches Denkmal zu stiften. Wir sehen ihn darum seine Höllen-, Fegfeuer- und Paradieses-Wanderung Schritt für Schritt [6] selbst innerlich miterleben, ein Sinnbild seiner eigenen Rettung aus der Sünde, seiner eigenen Buße (Hölle), Läuterung (Fegfeuer) u. Erhebung in die Seligkeit (Paradies). Dabei hält er aber dieses selbe Selbsterlebniß auch der Menschheit überhaupt als Spiegel ihres allgemeinen, ewigen Heilswegs vor. Wie er, so müssen wir alle gerettet, stufenweise innerlich zur Vollendung gebracht werden. Dies ist die persönliche Beziehung und der allgemein-moralische Sinn der göttl. Komödie. Man wird finden, daß Dante dabei auf dem Standpunkt eines gläubigen Christen, aber auch eines reformatorisch helldenkenden Katholiken steht. Letzteres ist für unsre Tage besonders interessant zu sehen. Man lese z. B. Hölle Gs. 19, 91 ff. 27, 87 ff. Fegfeuer 16, 94 ff. Paradies 11. 12. 22, 76 ff. 29, 88 ff. – lauter Strafreden wider Papstthum und Mönchswesen! – Wie nun diese beiden eben dargelegten Beziehungen der göttl. Kom. stets miteinander Hand in Hand gehen, so fügt sich ihnen endlich eine dritte organisch ein. Dies ist die zeitgeschichtlich-politische Beziehung des Gedichts. Dante, aus einer angesehenen florentinischen Familie 1265 geboren und sorgfältig erzogen und gebildet in allem damaligen Wissen, lebte also in dem 13. Jahrhundert, in welchem Italien aus einer Menge kleiner selbstständiger Stadtgebiete und Regierungen bestand, welche genöthigt waren zu ihrer Stütze sich theils dem Papst, theils der deutschen Kaiserpartei anzuschließen. So fiel sein ganzes Dasein in diesen Kampf des Welfen- und Ghibellinenthums hinein, zumal als er im Jahre 1300 einer der „Prioren“, der politischen Leiter der Vaterstadt ward. In Florenz besonders bestanden neben jenen großen Hauptparteien noch zwei adelige Stadtparteien, die Weißen und Schwarzen, von denen die ersteren mehr kaiserlich, die letzteren mehr welfisch waren. Dante, in all’ diese Kämpfe hineingezogen, zog endlich, als Karl von Valois unter dem Schutz von Bonifaz VIII. in Florenz einzog und die Ghibellinen stürzte, 1302 ins Elend und in die Verbannung, aus der er bis zu seinem Tod 1321 nie wiederkehrte. Aber beugen oder umstimmen ließ er sich dadurch nicht. Ein Patriot und Staatsmann vom Scheitel bis zur Sohle, ein glühender Ghibelline dabei, welcher die Rettung seiner zerklüfteten Zeit einzig von Heinrich VII. Zug nach Italien (1310–1313), vom deutschen Weltkaiserthum erwartet, welches unabhängig neben dem Papstthum bestehen müsse, hat er, der Ersten einer, am Ende des 13. Jahrhunderts schon, den modernen Staatsgedanken erfaßt. Es versteht sich und ist neuerdings allgemein anerkannt, daß er auch diesen denn predigen will in seinem Gedicht. Ja, nach seiner Anschauung gibt es für die Menschheit auch kein ewiges Heil ohne die zeitliche Bedingung einer bürgerlichen Wohlordnung. Unter dem Elend, woraus Dante retten will, unter der Hölle, die er sieht, dem Führer, der ihn geleitet, der Läuterung und Freiheit, die er (Fgf. 27, 127 ff.) erlangt, den Rettungsmitteln und der Rettung, wovon er spricht, hat also der [7] aufmerksame Leser immer neben 1. dem Persönlichen und 2. Allgemein-Menschlichen, was damit gemeint ist, auch 3. das politische Elend etc. die politische Rettung jener Zeit miteinzubegreifen. Indessen wird der unter 1. und 2. genannte ideale Gehalt des Gedichts immerhin für unsre Zeit der wichtigste bleiben und der Leser mag sich demgemäß an folgende Summa halten: Grundgedanke der göttlichen Komödie ist die Rettung, Erhebung und Beseligung des Menschenherzens, wie sie bei Dante und seinen Zeitgenossen unter gewissen persönlichen und zeitgeschichtlichen Bedingungen, im Wesentlichen aber für alle auf dieselbe Weise, durch denselben Stufengang sich vollzieht. – Begründung, sowie nähere Durchführung dieser Idee der göttl. Komödie nebst einleitender Uebersicht über das ganze Werk und Biographie seines Dichters findet der Leser in des Herausgebers Schrift „Die göttliche Komödie nach Inhalt und Gedankengang übersichtlich dargestellt mit biographischer Einleitung, Stuttgart 1871.“ Nach dem Bisherigen deuten sich nun mit Leichtigkeit die Allegorien, welchen der Leser sofort im ersten Gesang begegnen wird und welche zum Voraus hier besprochen seien. Der „finstre Wald“, von dem Dante ausgeht, ist seine eigene Jugendverirrung; ist seine und des Menschen Sinnlichkeit, Sündhaftigkeit überhaupt: ist schließlich, speciell auf des Dichters Gegenwart angewendet, die von ihm so sehr verabscheute staatlich-kirchliche Mißordnung, die Kaiserlosigkeit und Papstübermacht. Alle diese Gesichtspunkte liegen ineinander. Es bedarf keiner Worte, was also „der rechte Weg“ bedeutet, welchen Dante, welchen seine Zeit im Schlaf verloren. Aber mitten in dieser Irre glänzt dem Dichter, dem Menschen auch eine ferne „selige Höhe V. 13 ff.“ entgegen, das höhere Leben, die Erhebung zu Gott und seiner Weltordnung. Er kann aus eigenem Antrieb diesem Ziel entgegenstreben (V. 19–30.). Aber drei Thiere V. 31–61, d. h. die sinnlichen Triebe hemmen den Weg. Er kann das Ziel nicht allein und nicht direct erreichen. Von oben, von Beatrix, d. h. der göttlichen Gnade, gesendet, muß ihm Hilfe kommen, ein Führer, Virgil. Er ist gewählt, als ein bekannter Liebling des Mittelalters. Er ist die Vernunft, die natürliche Gottesahnung, zugleich die politische Einsicht und führt den Dichter erst durch Hölle und Fegfeuer. Durch Sündenerkenntniß und Läuterung bekommt er so die Heilsgrundlage. Aus Virgils Hand übernimmt ihn Beatrix, die Gnade, die himmlische Weisheit zur Heilsvollendung im Himmel. Dies ist der klare Gang der Wanderung, welche aber Dante poetisch und um desto besser als Prophet auftreten zu können, „auf halbem Weg des Menschenlebens“, in sein 35stes Jahr setzt, sieben Tage, vom Charfreitag Nacht bis wieder zum Freitag des Jahre 1300 dauern läßt und welche wir nun mit ihm antreten.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_004005.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)