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Denn jenes Licht des Lebens, das entschienen

Dem ew’gen Lichtquell, ewig mit ihm Eins
Und mit der Lieb’, als Drittem, Eins in Ihnen,

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Eint gnädiglich die Strahlen seines Scheins,

Sie, wie in Spiegeln, in neun Himmeln zeigend,
Im ewigen Verein des Einen Seins.

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Von dort sich zu den letzten Kräften neigend,

Wird schwächer dann der Glanz von Grad zu Grad,
Zufäll’ges nur, von kurzer Dauer, zeugend.

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Zufäll’ges, wie mein Wort bezeichnet hat,

Das sind die Dinge, welche die Bewegung
Des Himmels zeugt, mit oder ohne Saat.

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Ihr Wachs ist ungleich, wie die Kraft der Prägung,

Und von des Urgedankens Glanz gewahrt
Man drum hier schwächere, dort stärkre Regung;

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Daher denn auch von Bäumen gleicher Art

Bald bessere, bald schlechtre Früchte kommen,
Und euch verschiedne Kraft des Geistes ward.

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Wär’ irgendwo das Wachs rein und vollkommen,

Und ausgeprägt mit höchster Himmelskraft,
Rein würde das Gepräg’ dann wahrgenommen.

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Doch die Natur giebt’s immer mangelhaft

Und wirkt dem Künstler gleich, der wohl vertrauen
Der Uebung kann, doch dessen Hand erschlafft.

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Drum bildet heiße Lieb’ und klares Schauen

Der ersten Kraft, dann wird sie, rein und groß,
Vollkommenes erschaffen und erbauen.

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So ward gewürdiget der Erdenkloß,

Die thierische Vollkommenheit zu zeigen,
Und so geschwängert ward der Jungfrau Schooß.

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Darum ist deine Meinung mir auch eigen:

Daß menschliche Natur in jenen Zwei’n
Am höchsten stieg und nie wird höher steigen.

Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_476.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)