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Ist öd’ an jeder Tugend, jeder Ehre,
Und ganz mit Bosheit schwanger und geplagt,

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Doch daß ich sie erkenn’ und Andern lehre,

So bitt’ ich, deute jetzt die Ursach’ mir.
Der sucht sie dort, der in des Himmels Sphäre.““

64
Ein bang gepreßtes Ach! entwand sich hier

Laut seiner Brust, und dann begann er: „Wisse,
Die Welt ist blind, und du, Freund, kommst von ihr.

67
Ihr, die ihr lebt, sprecht immer nur, es müsse

Der Himmel selber Schuld an Allem sein,
Als ob er euch gewaltsam mit sich risse.

70
Wär’s also, sprich, wo wäre nur ein Schein[1]

Von freiem Willen? wie entspräch’s dem Rechte,
Daß Lust der Tugend folgt, dem Laster Pein?

73
Anstoß leih’n eurer Regung Sternenmächte;[2]

Nicht jeglicher; jedoch auch dies gesetzt.
So ward Erkenntniß euch für’s Gut’ und Schlechte

76
Und freier Wille, der, wenn er auch jetzt

Zuerst nur mühsam mit den Sternen streitet,
Vom Kampf gestählt, gewißlich siegt zuletzt.

79
Und seid ihr frei, so ist das, was euch leitet,

Bess’re Natur und größre Kraft – ein Geist,
Dem keine Hindrung mehr ein Stern bereitet.

82
Drum, wenn die Welt mit sich der Irrthum reißt,

In euch nur liegt der Grund, liegt in euch Allen,
Wie, was ich sage, deutlich dir beweist: –

85
Es kommt aus dessen Hand, deß Wohlgefallen[3]

  1. [70–72. Die göttliche Gerechtigkeit fordert die Willensfreiheit des Menschen, welche kein willenloser Einfluß der Gestirne beschränken darf. – Der Dichter zeigt sich mit diesem Gedanken und seiner folgenden Ausführung nicht nur als ein großer Gelehrter, sondern auch als ein wahrhaft denkender und aufgeklärter Forscher.]
  2. [73–81. Denn nicht einmal den Anstoß aller unserer Seelenregungen geben die Gestirne. Und immer bleibt dem Menschen die klare Selbstentscheidung, wodurch er sich zum Bundesgenossen einer „höheren Natur und Kraft“, der göttlichen Gnade machen kann, welche seinen Geist für ewig über die unbewußte Macht der Sterne stellt. („Die Freiheit in Christo“.)]
  3. [85–93. Um nun weiter auf die, im Kampf um die Freiheit des [289] Willens der Seele beigegebene, gottgeordnete Unterstützung zu kommen, nemlich „das Gesetz – die kirchlich-staatliche Weltordnung“ – geht Dante auf die Entstehung der Seele zurück, welche er als einen göttlichen Schöpferact auffaßt (Creatianismus) Vgl. übrigens Ges. 25.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_288.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)