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Schmück’ jetzt mit Ehrfurcht Antlitz und Betragen,

Dann führt er wohl mit Freuden uns empor.
Denk’, nie wird dieser Tag dir wieder tagen.“

85
Und da er mich ermahnt schon oft zuvor,

Die Zeit zu nutzen, kam es, daß ich nimmer
Den Sinn, den solch ein Wort verschloß, verlor.

88
Das schöne Wesen naht’ – ein weißer Schimmer

War sein Gewand; dem Stern des Morgens war
Sein Antlitz gleich an zitterndem Geflimmer.

91
Die Arm’ erschloß er, dann das Flügelpaar,

Und sprach: „Komm jetzt, denn nahe sind die Stufen
Und leicht erklimmt ihr sie und ohne Fahr.

94
Nur Wen’ge nahn von Vielen, die berufen.

O Mensch, du fällst bei jedes Windes Wehn,
Du, den zum Aufflug Gottes Händ’ erschufen.“

97
Bald ließ er uns des Felsens Oeffnung sehn.

Dort schlug er meine Stirn mit seinem Flügel
Und hieß mich dann gesichert weiter gehn.

100
Wie ob der Stadt, die ihrer Herrschaft Zügel[1]

So wohl zu führen weiß wie Recht und Pflicht,
Am Weg zur Kirche, rechts am steilen Hügel,

103
Den kühnen Schwung des Bergs die Treppe bricht,

Die man gebaut in jenen guten Zeiten,
Wo sicher war das Maß und das Gewicht;

106
So war der Fels durch Stufen zu beschreiten,

Obwohl er jäh sich senkt als steile Wand,
Doch streift man das Gestein von beiden Seiten.

109
Laut klang’s, indem ich dort mich aufwärts wand,

„Den geistlich Armen Heil!“ – mit einem Sange,[2]
Wie ich so süß noch keinen je empfand.


  1. 100. Auf einem Berge von Florenz liegt die Kirche des heiligen Miniatus. Zu dieser führt die Treppe, mit welcher der Dichter den Weg durch den Felsen vergleicht. Er kann übrigens nicht von Florenz sprechen, ohne das schlechte Regiment und die schlechten Sitten seiner Vaterstadt zu strafen, in welcher sich eben einige auffallende Beispiele von Verfälschung ergeben hatten.
  2. 110. Den geistlich Armen Heil! der Gruß, welcher denjenigen entgegenklingt, die sich vom Stolze gereinigt haben. (Matth. 5 V. 3.)
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_266.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)