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Wie ich dort still mit meinem Führer stand,[1]

Erkannt’ ich, daß der Felsrand’ uns entgegen,
Der steil sich hob, gleich einer schroffen Wand,

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Von weißem Marmor war, und allerwegen

Voll Bildnerei, um Polyklet zur Scham,
Ja die Natur zum Neide zu erregen.

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Der mit dem Friedensschluß, den längst in Gram[2]

Die Welt ersehnt, auf’s irdische Gefilde,
Den lang verschlossnen Himmel öffnend, kam,

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Der Engel war dort eingehau’n, und Milde

Und Liebe that so wahr sein Wesen kund,
Daß Niemand glaubt’, es sei ein stumm Gebilde.

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Man schwor, ein Ave schweb’ auf seinem Mund,

Denn Sie war dort, durch die des Himmels Riegel
Der Höchste löst’ im neuen Liebesbund.

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Es zeigte der Geberde reiner Spiegel

Das Wort: Sieh Gottes Magd, so ausgeprägt,
Wie sich im Wachs ausprägt das schöne Siegel.

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„Was schaust du“, sprach Virgil, „so unbewegt,

Als ob nur diesem Bild dein Blick gebührte?“ –
Ich ging zur Seit’ ihm, wo das Herz uns schlägt,

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Daher sich jetzt dorthin mein Auge rührte;

Und hinter der Maria war der Stein,


  1. 28. Wir werden in jedem Kreise des Reinigungsberges bei dem Eintritte Beispiele der Tugend finden, welche dem darin abzulegenden Fehler entgegengesetzt ist, beim Austritte aber Beispiele des Lasters selbst und seiner Folgen. Jene werden die Geißel genannt, welche das Gemüth antreiben soll, diese Tugend sich anzueignen, wodurch es dann von selbst von dem entgegengesetzten Laster gereinigt sein wird – diese der Zügel, welcher uns abhalten soll, in das abgelegte Laster zurückzufallen. Hier, in dem Kreise, in welchem die Hochmüthigen büßen, finden wir daher zunächst in Marmor Bilder der Demuth. [Es sei hier ein für allemal zur Vergleichung der Fegfeuerbezirke mit dem Höllenkreise angeregt! Die hier vorkommenden Classen, auch so weit sie dort Parallelen haben (z. B. die Zornigen, Geizigen etc.), bezeichnen immer relative Sünden, Unvollkommenheiten, welche auf eine entsprechende Weise hier büßend abgelegt werden, wie sie dort als unerkannte Laster ewig bestraft werden. Denn hier handelt es sich ja nur um Solche, die auf Erden noch irgend Buße gethan, wenn auch zu späte oder ungenügende. Vgl. z. B. Fegef. Gs. 16, 1 ff. mit Hölle, Gs. 7, 109 ff.; Fegef. Gs. 23 mit Hölle, Gs. 6; Fegef. 26 mit Hölle 5.]
  2. 34–45. Gabriel, welcher der Maria ankündigte, daß sie den Heiland gebären werde. (S. Ev. Lucä Kap. 1 V. 26–38.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_253.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)