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Junge war, da ich in meinem Herzen eine unüberwindliche Leidenschaft für Sie fühlte, war’s da Verdienst an mir? Oder war’s nicht vielmehr innere Uebereinstimmung der Charaktere, geheime Zuneigung des Herzens, daß auch Sie für mich nicht unempfindlich blieben, daß ich nach einer Zeit mir schmeicheln konnte, dies Herz ganz zu besitzen? Und nun – bin ich nicht ebenderselbe? Sind Sie nicht ebendieselbe? Warum sollt ich nicht hoffen dürfen? Warum nicht bitten? Wollten Sie einen Freund, einen Geliebten, den Sie nach einer gefährlichen unglücklichen Seereise lange für verlohren geachtet, nicht wieder an Ihren Busen nehmen, wenn er unvermuthet wiederkäme, und sein gerettetes Leben zu Ihren Füssen legte? Und bin ich weniger auf einem stürmischen Meere diese Zeit geschwebet, sind unsere Leidenschaften, mit denen wir im ewigen Streit leben, nicht schröcklicher, unbezwinglicher, als jene Wellen, die den Unglücklichen fern von seinem Vaterlande verschlagen? Marie! Marie! Wie können Sie mich hassen, da ich nie aufgehört habe Sie zu lieben? Mitten in allem Taumel, durch all den verführerischen Gesang der Eitelkeit und des Stolzes, hab ich mich immer jener seligen unbefangenen Tage erinnert, die

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Johann Wolfgang von Goethe: Clavigo. Ein Trauerspiel. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clavigo._Ein_Trauerspiel_(Goethe)_1774_-_051.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2019)