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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

Gebrauch des Verstandes gewesen sind, oder als ein direkter Antrieb zu der That selbst betrachtet werden können, und ob sich von dem einen oder von dem andern, vor, bei und nach der That Spuren nachweisen lassen, so ist hierüber folgendes zu bemerken:

1) Was das daraus möglicher Weise hervorgehende Hinderniß für den freien Verstandesgebrauch überhaupt anlangt, daß zwar: a) ein unregelmäßiger Blutumlauf und Congestionen des Blutes nach dem Kopfe, oder diejenige krankhafte Anlage, die sich bei dem Inquisiten durch die mehrmals erwähnten Beängstigungen, Herzklopfen, Benommenheit des Kopfes, Ohrenbrausen etc. offenbart hat, so wie sie als entfernte und vorbereitende Ursache zu vielen andern Krankheiten, z. B. zu Blutflüssen, Hypochondrie, Fehlern des Herzens, Gicht, Steinbeschwerden etc. betrachtet werden muß, eben so auch öfters als Anlage zu Gemüthskrankheiten beobachtet wird, b) Woyzeck in Folge dieses Zustandes sich in einer finstern, hypochondrischen Stimmung befunden, sich von andern zurückgezogen, bei anhaltender Richtung der Gedanken auf einen Gegenstand zuletzt gar nichts mehr gedacht und sich mit allerhand leeren Einbildungen gequält hat, c) Wahnsinnige ebenfalls zuweilen ohne objektive Veranlassung Töne und Stimmen zu vernehmen und sich mit Personen zu unterhalten glauben, die nicht vorhanden sind; daß aber dagegen

ad a) die Anlage zu einer Krankheit etwas ganz anderes ist, als die Krankheit selbst, und der vorgedachte krankhafte Zustand des Gefäß- und insbesondere des Venensystems, ob er gleich die vorbereitende Ursache zu einer Gemüthskrankheit werden kann, dessen ungeachtet noch keine Gemüthskrankheit ist, so lange sich diese nicht durch die ihr eigenthümlichen Kennzeichen offenbart, weil man sonst mit gleichem Rechte auch alle diejenigen für gemüthskrank halten müßte, bei denen sich aus derselben Anlage und bei denselben Erscheinungen von Beängstigung, Herzklopfen, Benommenheit des Kopfes etc. später eine andere Krankheit, z. B. goldene Ader, Gicht, Steinschmerz etc. entwickelt;

ad b) eine finstere und zugleich reizbare Gemüthsstimmung, Menschenscheu, Liebe zur Einsamkeit, Benommenheit des Kopfes, Verminderung der gewohnten Kraft einen Gegenstand des Nachdenkens lange zu verfolgen, Zerstreuung und momentane Unfähigkeit zum Nachdenken überhaupt, oder auch Beschäftigung mit unwillkührlich sich aufdringenden Bildern, einer trüben Einbildungskraft, deren man sich oft mit aller Kraft des Willens nicht erwehren kann, bloß Symptome der Hypochondrie sind, welche, wie unzählige Erfahrungen bei den achtbarsten, geistreichsten und thätigsten Männern lehren, den freien Gebrauch des Verstandes nicht im mindesten beschränken, oder gar aufheben. Sollte gegen diese Ansicht der Einwurf erhoben werden, daß

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_523.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)