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Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno. In: Berliner Abendblätter

Das Bettelweib von Locarno.

Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien, befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht; ein Schloß, mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren Einem einst, auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte, kranke Frau, die sich bettelnd vor der Thür eingefunden hatte, von der Hausfrau, aus Mitleiden, gebettet worden war. Der Marchese, der, bei der Rückkehr von der Jagd, zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehn, und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus, und beschädigte sich auf eine gefährliche Weise das Kreuz; dergestalt, daß sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand, und quer, wie es ihr vorgeschrieben war, über das Zimmer ging: hinter den Ofen aber, unter Stöhnen und Aechzen, niedersank und verschied.

Mehrere Jahre darauf, da der Marchese, durch Krieg und Mißwachs, in bedenkliche Vermögensumstände gerathen war, fand sich ein Genuesischer Ritter bei ihm ein, der das Schloß, seiner schönen Lage wegen, von ihm kaufen wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf, den Fremden in dem obenerwähnten, leerstehenden Zimmer, das sehr schön und bequem eingerichtet war, unterzubringen. Aber wie betreten war das Ehepaar, als der Ritter mitten in der Nacht, verstört und bleich, zu ihnen herunter kam, hoch und theuer versichernd, daß es in dem Zimmer spuke, indem etwas, das dem Blick

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Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno. In: Berliner Abendblätter. Julius Eduard Hitzig, Berlin 1810, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Berliner_Abendbl%C3%A4tter_1810_039.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)