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Mönch in den gehobensten Augenblicken erlebt, den Anblick des Göttlichen, das erlebt er nur in anderer Form und erlebt auch der gewöhnliche Christ im regelmäßigen Gottesdienst, und wie der Mönch durch strenge Askese sich auf die Offenbarung bereitet, so stellt die Kirche den großen Festen die vier Fastenzeiten voran, in denen der Gläubige von der Sünde, die ihm anklebt und ihn träge macht, frei werden soll. Damit gewinnt der Gottesdienst, der zunächst außer aller Beziehung zum Alltagsleben zu stehen scheint, doch einen Zusammenhang mit dem wirklichen Leben. Unser höchstes Ideal ist, daß das ganze Leben ein Gottesdienst sein soll, hier kann man wenigstens sagen, daß das ganze Leben als Bereitung zum Gottesdienste gefaßt wird. Von da aus versteht man die gehobene Stimmung, die die Feste in der griechischen Kirche hervorrufen. Wenn die vorangehende Zeit der Askese es kräftig eingeprägt hat, daß man sich dem Heiligen nicht anders als würdig naht, so wirkt der Kontrast um so mächtiger, daß die erhabene Majestät in so sinnenfälliger Form, in so unmittelbarer Nähe sich zu schauen gibt.

Man ist nicht geneigt, der großen Masse der Gläubigen solche Empfindungen zuzutrauen. Man hält vielfach für das einzig Lebendige in der griechischen Kirche den bunten Aberglauben, der mit und ohne Sanktion durch die Kirche im gewöhnlichen Leben sich breit macht. Unzweifelhaft leidet sie darunter, daß eine Reihe barbarischer Völkerschaften in sie eingeströmt ist, die sie nicht imstande war, kulturell zu heben, und deren Aberglauben sich mit den superstitiösen Meinungen, die in ihr selbst herrschten, nur zu leicht verband. Aber der Schluß wäre dennoch falsch, daß auf diesem Boden feinere Gefühle überhaupt nicht gedeihen könnten und die ganze Religiosität ein unheimliches Gepräge tragen müßte. Es ist daran zu erinnern, daß bei den alten Christen der Dämonenglaube keineswegs die Kraft der Frömmigkeit gebrochen, ja eher ein gewisses Hochgefühl erzeugt hat: denn man wußte, daß der Satan unter die Füße getreten ist. Ähnlich hat auch hier das Mönchtum, das in vielfacher Hinsicht den Aberglauben befördert hat, ihm doch seine schlimmste Wirkung benommen. Antonios hat die Parole ausgegeben, daß man die Dämonen nicht zu fürchten brauche, weil der Christ die Macht habe, sie jederzeit zu besiegen, und daß heute noch, trotz all des Wusts von Aberglauben, eine einheitliche, zuversichtliche Stimmung der Frömmigkeit in der griechischen Kirche möglich ist, dafür verweise ich nur auf den überwältigenden Eindruck, den das einfache, seines Weges so sichere Christentum des gewöhnlichen Volkes auf Tolstoi gemacht hat.

Eine merkwürdige Mischung kindlicher Einfalt und heiligen Ernstes ist die Signatur des griechischen Christentums in seinen liebenswürdigsten Vertretern, ein naiver Sinn und eine abgeschlossene Stimmung, die uns immer zugleich an die Jugendzeit des Christentums und an das Sterbegefühl der alten Völker erinnern. Wer mag in die Zukunft sehen, ob die griechische Kirche eine höhere Stufe erreichen kann? Vom Mönchtum jedenfalls, wie manche glauben, darf man eine Reformation nicht erwarten. Es ist mit dem Wesen der gegenwärtigen Kirche verwachsen und hat in ihr seinen Beruf erfüllt. Man darf sagen, es hat ihn erfüllt: es hat die heiligsten Güter in ihr gepflegt, und ihm verdankt die griechische Kirche, was heute noch an Leben in ihr ist.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Über das griechische Mönchtum. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_282.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)