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und die Gnade des Himmels für den armen Schauspieler angefleht, der Gotteslästerungen sagen mußte, weil er sie gelernt hatte. Und was beym Griechen mein ganzes Mitleiden aus der Brust herausgeschluchst haben würde, macht beym Franzosen mein Herz für Abscheu zum Stein. Wer? was? Oedip? ist das geschehen? Wenn es geschehen ist, warum bringt ihrs auf die Bühne wie es geschah, nicht vielmehr, wie Aristoteles selber verlangt, wie es geschehen sollte. Bey dem Griechen sollte Oedip ein Monstrum von Unglück werden, weil Jokasta durch ihren Fürwitz Apolln geärgert, die Ehrfurcht vor ihm aus den Augen gesetzt. Aber bey dem Franzosen hätt’ er sein Unglück verdienen sollen, oder fort von der Bühne. Wenigstens mußt du mir ein Brett zuwerfen, Dichter, woran ich halten kann, wenn du mich auf diese Höhe führst. Ich fordre Rechenschaft von dir. Du sollst mir keinen Menschen auf die Folter bringen, ohne zu sagen warum.

Damit wir nun, unsern Religionsbegriffen und ganzen Art zu denken und zu handeln analog, die Gränzen unsers Trauerspiels richtiger abstecken, als bisher geschehen, so müssen wir von einem andern Punkt ausgehen, als Aristoteles, wir müssen, um den unsrigen zu nehmen, den Volksgeschmack der Vorzeit und unsers Vaterlandes zu Rathe ziehen, der noch

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Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Anmerkungen_%C3%BCbers_Theater.pdf/51&oldid=- (Version vom 31.7.2018)