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Jahrhunderte eingewirkt, und manche seiner Anschauungen sind auch auf solche übergegangen, die Luther’s Lehre mit besonderer Strenge festzuhalten beflissen waren.

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 Gönnen Sie mir noch einige Worte über den persönlichen Charakter Melanchthon’s! Melanchthon war, wie eine der Gedächtnisreden bei seinem Tode schon im 16. Jahrhundert sagte, ein vir ἠθικὸς, ein durch und durch christlich-sittlicher Charakter. Wie er das ethische Moment in seiner gesamten Thätigkeit zum entschiedensten Ausdruck gebracht hat, so war er selbst auch durch und durch vom ethischen Geist des Christentums durchdrungen – ich wage die Behauptung, wie kein anderer der Reformatoren. Daß bei ihm alles auf Glauben beruhte, wissen wir. An Glaubenswärme und Innigkeit hat ihn keiner übertroffen, auch Melanchthon war ein Mann des Glaubens und Gebets. Einer seiner Lieblingssprüche war: in ihm leben, weben und sind wir – von diesem Worte machte er den vollen christlichen Gebrauch, daß sein Leben ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott, ein unablässiges Gebet, eine ununterbrochene Fürbitte für andere, für die ganze Kirche wurde. Wir haben noch das Gebet, das er alle Morgen sprach: er liebte auch hier eine feste, sichere Form. Er hat einmal seine Sorglichkeit gewissermaßen dadurch entschuldigt, daß sie ihn fort und fort zu Gott im Gebet führe. Tief rührte es ihn, daß, als er einmal in großer Bekümmernis über die Lage der Kirche unter Thränen vor Gott stand, sein Töchterlein ihn überraschte und ihm die Thränen mit seiner Schürze aus den Augen wischte. Sein ganzes Wesen atmete Liebe, Milde, Freundlichkeit, unerschöpfliche Herzensgüte. Nicht zu leugnen ist, daß ihm zugleich eine gewisse natürliche Reizbarkeit eignete, die er aber mit Macht bekämpfte. Er erstrebte in allem Mäßigung und Harmonie. Er war glücklich verheiratet mit einer Tochter des Bürgermeisters in Wittenberg; Luther hatte ihn zur Ehe gedrängt aus Sorge um seine Verpflegung. Er war der edelste, liebreichste Gatte und Vater. Unter den zahllosen Besuchen, die er erhielt, kam auch einmal ein Franzose zu dem berühmten Mann und fand ihn an der Wiege seines neugeborenen Kindes, in der einen Hand ein Buch haltend, in der andern das Wiegenband, mit dem er das Kind schaukelte. Der

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Adolf von Stählin: Philipp Melanchthon. J. A. Schlosser, Augsburg 1897, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_Philipp_Melanchthon.pdf/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)