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gegen Gerüche, Geräusche, Berührungen, Temperaturen, durch Geschmacks- und Schmerzempfindlichkeit seine Umgebung in Bann, und bringt stets auch seine Unternehmungen dadurch in Einklang mit seiner fiktiven männlichen Leitlinie. Torheiten und Aberglauben, arrangierte Überzeugungen von einem unheilvollen Fatum, der festwurzelnde Glaube an das eigene Pech dienen der gleichen Sicherungstendenz, die sich den Beweis konstruiert, dass Vorsicht nötig sei. In derselben Richtung wirkt die halluzinatorische Erweckung der Angst, von der der Nervöse einen ausgiebigen Gebrauch macht.

Dass die Charakterzüge ebenso wie die Affektbereitschaften im Dienste der leitenden Fiktion stehen, dafür sucht dieses Buch in weitestem Ausmasse Beweise zu erbringen. Die steil aufwärts führende Leitlinie des Nervösen erzwingt eben besondere Mittel und Lebensformen, die unter dem wenig einheitlichen Begriff des neurotischen Symptoms zusammengefasst werden. Bald finden wir unter ihnen Sicherungen an entfernten Orten, Sperrvorrichtungen und Deckungsgefechte, die den zentralen Impuls, den Willen zur Macht siegreich gestalten sollen, dann wieder sind es — oft schwer verständliche — Umwege, Schleichwegen vergleichbar, um die Leitlinie nicht zu verlieren, wenn der geradlinige Weg zum männlichen Triumph verlegt ist. Oft findet man einen Wechsel von nervösen Erscheinungen, die einem Ausproben gleichen, bis das schwerere Symptom den Einklang mit der leitenden Idee verbürgt. Auch diese Erscheinungen und ihre Psychogenese glaube ich in vorliegender Arbeit im Zusammenhange und in genügender Breite dargestellt zu haben. Sie fussen allesamt auf lange geübten und vorbereiteten Fähigkeiten, deren Überwertigkeit durch das Mittel der neurotischen Apperzeption gestützt wird und durch ihre Eignung für den Kampf um das ideelle Persönlichkeitsgefühl begründet ist. Die Vorbereitungen selbst fallen in den Beginn der Neurose, begleiten den Aufbau der Persönlichkeitsidee und passen sich ihm an. Sie lassen sich am klarsten in den aufbewahrten Kindheitserinnerungen, in den oft wiederkehrenden Träumen, in der Mimik und im Habitus, im Spiel der Kinder und in ihren Phantasien über künftige Berufe, über die Zukunft erkennen.

Es liegt im Wesen einer hoch angesetzten Leitidee, dass sie ihren Träger, den Nervösen, der Wirklichkeit entfremdet. Nicht selten macht sich dieser Zustand in einem „Fremdheitsgefühl“ geltend, das aber wieder überwertet und tendenziös verwendet wird, um in einer unsicheren Situation einen vorsichtigen Rückzug zu empfehlen. Diesem „Zurück!“ scheinbar entgegengesetzt, tritt zuweilen das unberechtigte Gefühl der Vertrautheit mit einer Situation, das Gefühl des „déjà vu“ hervor, oft um im Bilde einer versteckten Analogie zu warnen, oder zu ermutigen.[1] Bei neurotischen Schülern habe ich zuweilen beobachten können, wie sie sich unter dem Gefühl ihrer Prädestination in einer gänzlich unbekannten Frage zu Worte meldeten und gänzlich versagten. Solche Erlebnisse können dem Neurotiker sein etwa auftauchendes, unterstrichenes Gefühl der „Vertrautheit“ als höchst suspekt, wie wenn ihm dauernd ein saurer Nachgeschmack verblieben wäre, empfinden lassen.


  1. Fremdheitsgefühl und Gefühl der Vertrautheit in der Neurose sind analog den Spiegelungen der Warnung und des Zuspruchs einer inneren Stimme im Traum, in der Halluzination, in der Attitude und in der Psychose.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/53&oldid=- (Version vom 31.7.2018)