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des Lebens überhaupt ansetzen zu können. Der Neurotiker aber, wie das der Welt noch entrückte Kind, wie der primitive Verstand früherer Völker, klammert sich an den Strohhalm der Fiktion, hypostasiert sie, verleiht ihr willkürlich Realitätswert, sucht sie in der Welt zu realisieren. Dazu ist sie untauglich, noch untauglicher, wenn sie wie in der Psychose zum Dogma erhoben, anthropomorphisiert wird. Das Symbol als Modus dicendi beherrscht unsere Sprache und unser Denken. Der Neurotiker nimmt es wörtlich, und in der Psychose wird die Verwirklichung versucht. In meinen Arbeiten zur Neurosenlehre ist dieser Standpunkt stets betont und festgehalten. Ein günstiger Zufall machte mich mit Vaihingers genialer „Philosophie des Als Ob“ (Berlin 1911) bekannt, ein Werk, in dem ich die mir aus der Neurose vertrauten Gedankengänge als für das wissenschaftliche Denken allgemein gültig hingestellt fand.

Nachdem wir festgestellt haben, dass der fiktive, leitende Zweck des Neurotikers eine grenzenlose Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls ist, der geradezu ausartet in den „Willen zum Schein“ (Nietzsche), können wir dazu übergehen, die begriffliche Fassung dieses Lebensproblems einer Betrachtung zu unterziehen. Da beim Suchen des Geschlechtsunterschiedes die Rolle des Mannes entschieden vorgezogen wird, stellt sich in früher Zeit bereits der Formenwandel entsprechend dem Gegensatz: „Mann — Weib“ — ein, und es ergibt sich für den Neurotiker die Formel: ich muss so handeln, als ob ich ein ganzer Mann wäre (oder werden wollte). Das Gefühl der Minderwertigkeit und seine Folgen werden mit dem Gefühl der Weiblichkeit identifiziert, der kompensatorische Zwang drängt im psychischen Überbau auf Sicherungen behufs Festhaltung der männlichen Rolle, und der Sinn der Neurose kleidet sich in den gegensätzlichen Grundgedanken: ich bin ein Weib und will ein Mann sein. Dieser leitende Endzweck schafft die nötigen psychischen Gesten und Bereitschaften, drückt sich aber ebenso in körperlicher Haltung und Mimik aus. Und mit diesen vorbereiteten Gesten, als deren Vorhut die neurotischen Charakterzüge aufzufassen sind, steht der Neurotiker dem Leben und den Personen gegenüber, mit deutlich erhöhter Spannung lauernd, ob er sich als Mann bewähren werde. Scheingefechte spielen eine grosse Rolle; sie werden eingeleitet, damit sich der Neurotiker übe, damit er aus anderen oder ähnlichen Verhältnissen Lehren gewinne, um sich vorsichtiger zu machen, und um beispielsweise Beweise an die Hand zu bekommen, dass er die Hauptschlacht nicht wagen dürfe. Wieviel er dabei arrangiert, übertreibt und entwertet, was ihm durch eine gewisse Willkür ermöglicht wird (Meyerhof), wie er dabei falsch gruppiert und auf die Festigung seiner Fiktion hinarbeitet, erfordert eine gesonderte Darstellung, wie ich sie versuchsweise in den Vorarbeiten zu dieser Schrift geliefert habe. Dass aber in dem männlichen Protest des Neurotikers der ältere kompensierende Wille zur Macht steckt, der sogar die Empfindungen umwertet und Lust zur Unlust machen kann, geht aus den nicht seltenen Fällen hervor, wo der geradlinige Versuch, sich männlich zu geberden, auf grosse Widerstände stösst und sich eines Umweges bedient: die Rolle des Weibes wird höher gewertet, passive Züge werden verstärkt, masochistische, bei Männern passiv homosexuelle Züge tauchen auf, kraft deren der Patient hofft, Macht über Männer und Frauen zu gewinnen, kurz der männliche

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/29&oldid=- (Version vom 31.7.2018)