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Mitleids, weil sie zur männlichen Leitlinie in Gegensatz stehen, nicht auftauchen und wirksam werden zu lassen. Die allgemeine Verbreitung dieses Hanges, männlich zu sein, der zur Überlegenheit über den anderen führen soll, erweist sich nirgends so deutlich wie an der unschuldigen Schadenfreude; beim Nervösen kann diese allerdings überaus stark betont werden und auf die unsinnigste Art zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls verwendet werden. Larochefoucauld spricht es in seiner neckischen Weise aus, „dass es im Unglück unserer Freunde etwas gäbe, was uns nicht ganz unangenehm sei“.

Ich hörte einen Patienten laut auflachen, als er von dem Erdbeben in Messina unterrichtet wurde. Er litt an starken masochistischen Anwandlungen. Zwangslachen tritt oft auf, wenn der Patient sich einem überlegenen Menschen gegenüber sieht, einem Lehrer etwa oder einem Vorgesetzten, der mehr als die gewohnte Autorität beansprucht. Man findet bei solchen Patienten eine ausgesprochene Neigung, andere zu beherrschen oder zu quälen, zuweilen sadistische Phantasien, bis man entdeckt, dass sich der Lachzwang, die Herrschsucht und der Sadismus über dem schwachen Punkt des Minderwertigkeitsgefühls aufbauen, um ihn zu kompensieren. — Pyromanie, die Freude an Feuerbränden und der kaum unterdrückbare Zwang, im Theater, in der Kirche an ein Feuer zu denken oder „Feuer!“ zu schreien, scheint nach manchen Ergebnissen unserer Beobachtung auf die Minderwertigkeit der empfindlichen Blase und lichtempfindlicher Augen, respektive auf Vorbereitungen zu deren Kompensation zurückzuweisen.

Doch dieser Leitlinie der männlichen Grausamkeit drohen in unserer Gesellschaft mit ihren ethischen Imperativen grosse Gefahren und Unfälle, so dass sie nur gedeckt beschritten werden kann. Meist kommen Ausbiegungen und Umwege zustande, bei deren Betretung der sadistische Zug vollends oder grossenteils verloren gegangen scheint. Da gelingt es dem Nervösen, durch Milde und Weichherzigkeit sich die gleiche Überlegenheit über den Schwachen zu sichern, oder er operiert auf der neuen Linie so geschickt, dass er neuerdings eine Aggression herstellt, um andere zu beherrschen und zu quälen. Häufig findet man bei Zwangsneurosen, dass sie ihre verstärkte sadistische Leitlinie verlassen haben, und nun zu Bussübungen und sichernden Massnahmen gekommen sind, die ganz den gleichen Charakter des Zwanges tragen und auf der Umgebung nicht weniger lasten als die früheren Affektbereitschaften der Patienten, in gleicher Weise demnach geeignet sind, das Überlegenheitsgefühl des Nervösen ersichtlich zu machen. In den grossen Anfällen der sogenannten „Affektepilepsie“, der Hysterie der Trigeminusneuralgie, der Migräne etc. biegt die männliche Herrschsucht auf den neurotischen Weg der Anfallsbereitschaft um, aber die Machtlosigkeit der Umgebung und ihr Leiden tritt nicht weniger, eher mehr zutage als bei offener Wut und Feindseligkeit, die sich meist in den Intervallen in der früheren Weise betätigt. Eine Neigung für Antivivisektion, Vegetarianismus, Tierschutz, Wohltätigkeit zeichnet oft diese guten Kenner fremden Leides aus, sie können keine Gans bluten sehen, „klatschen aber in die Hände, wenn ihr Gegner bankerott von der Börse geht“. Ihr Hang zum Sektierertum stammt aus einem feindseligen, antisozialen Zug, und ebenso die heftige Bestreitung fremder Geltung, die sie oft vornehmen, bevor sie ein Urteil haben. Toleranz ist ihnen fremd, sofern sie sie nicht selbst schreiend einfordern.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/152&oldid=- (Version vom 31.7.2018)