Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Amtstitel
Band III,2 (1899) S. 14561459
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Cancellarius bedeutet ursprünglich den Thürsteher [1457] (CIL VI 9226: qui fuit cancellarius primi loci campi Boari), lässt sich aber seit dem J. 363 n. Chr. (CIL VI 1770) als Titel eines Subalternbeamten nachweisen, der griechisch durch ὁ τῆς θύρας κύριος umschrieben wird (Lib. or. II 107). Beamte dieser Art finden sich in den Diensten der Praefecti praetorio (CIL XI 317. Joh. Lyd. de mag. III 36. 37. Cassiod. var. I 35, 2. XI 6. 14. 36. 37. 39. XII 1. 3. 10. 12. 14. 15. Cod. Iust. I 27, 1 § 21), der Praefecti urbis (CIL VI 1770. 8401), der Magistri militum (Mommsen Chron. min. II 41), des Comes Orientis (Lib. or. II 107), der Duces (Constit. Anast. de duc. Lib. 14 bei Zachariae v. Lingenthal M.-Ber. Akad. Berl. 1879, 142; unter Iustinian scheinen sie den Duces genommen zu sein, da sie in dem Verzeichnis ihrer Subalternen Cod. Iust. I 27, 2 § 20ff. nicht mehr vorkommen), der Provincialstatthalter (Cod. Theod. I 35, 3. Cod. Iust. I 51, 3. 5. 8) und fehlten ursprünglich wohl keinem Oberbeamten, der richterliche Functionen besass (Joh. Lyd. de mag. III 11). Auch am Hofe des Kaisers im unmittelbaren Dienste desselben erscheinen C. in der Mehrzahl, aber wohl nicht vor dem 5. Jhdt. Denn in der Notitia dignitatum fehlen sie noch im Orient, nicht aber im Occident (IX 15), der meist einen späteren Zustand der Reichsverwaltung darzustellen pflegt. Wenn die Fälscher der Hist. Aug. Car. 16, 3 schon unter Carinus kaiserliche C. erwähnen, so ist dies nur ein weiterer Beweis für die späte Entstehung des Buches (Seeck Rh. Mus. XLIX 208). Anfangs scheint unter jedem Oberbeamten nur je ein C. gestanden zu haben (CIL VI 1770. Lib. or. II 107. M.-Ber. Akad. Berl. 1879, 142), später sollen es bei den Praefecti praetorio zwei gewesen sein (Joh. Lyd. de mag. III 36. 37); endlich ernennen diese sich ausser einem, der in ihrer Umgebung bleibt (Cassiod. var. XI 6. 27), noch je einen C. für jede Provinz ihres Sprengels (Cassiod. var. XII 1. 3. 10; vgl. Joh. Lyd. a. O.; cancellarius Campaniae Cassiod. var. XI 37; Lucaniae et Brittiorum XI 39. XII 12. 14. 15; provinciae Liguriae XI 14; provinciae Samnii XI 36), die aber von den eigenen C. der Statthalter zu unterscheiden sind.

Der C. erscheint in den Titelüberschriften von Cod. Theod. I 35 und Cod. Iust. I 51 und in den Ämterverzeichnissen Cod. Iust. I 27, 1 § 21 und M.-Ber. Akad. Berl. 1879, 142 gesondert von den übrigen Officialen und in engster Verbindung mit dem Adsessor (= consiliarius) und dem Domesticus. Man darf daraus schliessen, dass er ursprünglich, gleich diesen beiden, kein eigentlicher Staatsbeamter war, sondern von seinem Vorgesetzten nach eigenem Ermessen ernannt wurde und zu ihm in einer Art von privatem Vertrauensverhältnis stand (s. Bd. I S. 424, 47), weshalb auch der Name des Richters, dem er dient, mit zu seiner Titulatur gehört (CIL XI 317: cancellarius praefecti Longini). Daher nennt Cassiodor (var. XI 6, 3) sein Amt eine domestica militia, und unter den Staatsämtern, welche die Notitia dignitatum verzeichnet, wird es ebensowenig aufgeführt, wie die des Adsessor und des Domesticus. So scheinen denn auch die Oberbeamten in der Wahl ihrer C. anfangs ganz unbeschränkt gewesen zu sein; erst 415 wird verfügt, dass keiner diese Stellung mehr als einmal bekleiden dürfe (Cod. Iust. I [1458] 51, 5), und seit 423 musste ihre Person von den obersten Chargen des Officium geprüft und durch Erklärung zu den Acten gebilligt werden (Cod. Theod. I 35, 3). Noch später bestimmte man, dass sie aus dem Officium selbst zu nehmen seien (Cod. Iust. I 51, 8, wo die Worte ex eodem officio in das Gesetz des Cod. Theod. I 35, 3 interpoliert sind, also den Inhalt einer späteren Verfügung in dieses hineintragen). Doch blieb die Wahl noch insofern frei, als sie nicht durch das Dienstalter, nach dem sonst das Aufrücken innerhalb des Officium sich regelt, beschränkt war (Cassiod. var. XI 6, 1).

Der Titel des Amtes ist von den cancelli hergeleitet, d. h. von den gitterförmigen und daher durchsichtigen Schranken, die den Gerichtsraum gegen das Publicum abschlossen (Cassiod. var. XI 6, 5. Joh. Lyd. de mag. III 37. Agath. I 19; vgl. Gothofredus zu Cod. Theod. I 35 [12], 3). Denn der Platz des C. war ursprünglich an der Thür derselben; dort hatte er die Audienzsuchenden bei dem Richter vorzulassen (Cassiod. var. XI 6, 3. Agath. a. O.), Schriftstücke entgegenzunehmen und ihm zu überreichen (Joh. Lyd. III 11. 37. Cassiod. a. O.), kurz seinen Verkehr mit der Aussenwelt zu vermitteln. Aus jener Präsentation der Urkunden zur Unterschrift entwickelte sich später bei den kaiserlichen C. die Befugnis, die Edicte zur Publication zu bringen (CIL IX 2826). Anfangs aber waren sie thatsächlich nichts weiter als Thürsteher, und ihr Rang daher selbst bei denen, die dem Kaiser unmittelbar dienten, ein sehr niedriger (Hist. Aug. Car. 16, 3), weshalb sie auch in der Notitia dignitatum (Occ. IX 15) in der Reihe der kaiserlichen Officia an allerletzter Stelle stehen. Trotzdem war ihre Macht nicht gering, schon weil ohne ihren guten Willen, den sie sich oft teuer bezahlen liessen (CIL VI 1770. Lib. or. II 107), niemand mit dem Oberbeamten in Verkehr treten konnte. Und da der C. der einzige Subalterne ist, dessen Stellung auf freier Wahl seines Vorgesetzten beruht, so wird er meist der Vertrauensmann desselben und erhält von ihm mannigfache Aufträge, die über den ursprünglichen Inhalt seines bescheidenen Amtes weit hinausgehen. Indem diese gelegentlichen und ausserordentlichen Dienstleistungen im Laufe der Zeit zu regelmässigen werden, erweitert sich seine Competenz immer mehr. Im 6. Jhdt. gilt er daher schon als der Vornehmste im Officium, dem die andern Mitglieder desselben Gehorsam schuldig sind (Cassiod. var. XI 6, 1). Als solcher führt er die Aufsicht über die Dienstliste (matricula), nach der sich das Avancement der Officialen bestimmt (Cassiod. var. XI 6, 2), und zahlt ihnen ihren Lohn aus (Cassiod. var. XI 36, 4. 37, 4). Namentlich aber wird denjenigen C., die der Praefect jährlich (Cassiod. var. XI 7, 5. XII 2, 6. 16, 4) in die einzelnen Provinzen entsendet, die Beaufsichtigung des Postwesens (Cassiod. var. XI 14, 1. XII 15, 6) und der Steuererhebung übertragen (Cassiod. var. XI 10. 39. XII 10. 12, 3. 5. 14, 6. I 35, 2. Joh. Lyd. de mag. III 37), zu welchem Zwecke sogar militärische Executoren unter ihren Befehl gestellt werden (Cassiod. var. XII 3). Diesen wichtigen Obliegenheiten entsprechend steigert sich auch ihre Würde. Die C. der Praefecten besitzen im 6. Jhdt. senatorischen [1459] Rang, führen danach den Titel vir clarissimus (Cassiod. var. XI 10. 37. 39. XII 3, 2. 15), werden zu Comites ernannt (Mommsen Chron. min. II 41) und nach ihrer Entlassung zu Praerogativarii befördert (Cassiod. var. XI 27).

Nach Joh. Lyd. de mag. III 36 sollen sie als Gehalt einen Solidus (= 12,69 Mk.) täglich erhalten haben; doch wird dies kaum richtig sein, da Iustinian für alle C. des Praefecten von Africa zusammen nur 7 Pfund Gold oder 504 Solidi jährlich berechnet (Cod. Iust. I 27, 1 § 21). Aber daneben bezogen sie ansehnliche Sporteln; allein diejenigen, welche er jährlich von den Soldaten erheben durfte, wurden bei dem C. des Dux Pentapoleos von Anastasius auf 24 Solidi angesetzt (M.-Ber. Akad. Berl. 1879, 142).

Trotz ihrer hohen Stellung blieb, wie es scheint, die Folter gegen die C. erlaubt (Cassiod. var. XII 1, 3). Gerade wegen ihrer grossen Macht, die sie gewiss oft missbrauchten, hielt man die Möglichkeit eines scharfen Vorgehens gegen sie für unentbehrlich. Schon 399 wurde daher verfügt, dass sie nach Niederlegung ihres Amtes noch mindestens 50 Tage in der Provinz, in der sie fungiert hatten, bleiben müssten, um jedem Provincialen bequeme Gelegenheit zur Anklage zu gewähren (Cod. Iust. I 51, 3). Aus demselben Grunde bestimmte man 423, sie dürften noch drei Jahre nach dem Ende des Cancellariates nicht aus ihrem Officium ausscheiden (Cod. Theod. I 35, 3). Gothofredus zu Cod. Theod. I 35 [12], 3. P. Krüger Kritik des iustinianischen Codex 163. Mommsen Neues Archiv d. Gesellsch. f. ältere deutsche Geschichtskunde XIV 478.

[Seeck. ]