Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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aus Pergamon Griech. Rhetor im 1. Jh. v. Chr.
Band I,2 (1894) S. 2886 (IA)–2894 (IA)
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64) A. aus Pergamon (Strab. XIII 625. Quint. III 1, 17. Suet. Aug. 89. Ps.-Luk. Makrob. 23. Hieron. zu 1953 = 64 v. Chr.), einer der bedeutendsten griechischen Rhetoren aus dem 1. Jhdt. v. Chr. Von Caesar als Erzieher seines Neffen und Adoptivsohnes Octavian bestellt, begleitete er, obgleich iam grandis natu, also wohl mindestens 60 Jahre alt, seinen achtzehnjährigen Zögling Ende 45 ab urbe (Baumm De rhet. graec. a Seneca … adhibitis, Kreuzburg Gymn. Progr. 1885, 19 irrt, wenn er behauptet, dass A. vor 711 = 43 nicht nach Rom gekommen ist) auch nach Apollonia (Suet. Aug. 89. Quint. III 1, 17. Ps.-Luk. Makrob. 23), um seine weitere Ausbildung in griechischer Wissenschaft und besonders Redekunst zu leiten (Suet. Aug. 8. Veil. Pat. II 59, 4. App. b. c. III 9. Dio Cass. XLV 3. Plut. Brut. 22). [2887] Bald nach Caesars Ermordung zurückgekehrt, blieb A. allem Anscheine nach bis zu seinem Tode in Rom, hochgeehrt von seinem inzwischen Kaiser gewordenen Schüler Octavian (Strab. XIII 625. Weise Quaest. Caecil., Berl. Diss. 1888, 8, 3). Setzt man A.s Geburt nach obiger Annahme mit Frandsen M. Vipsanius Agrippa, Altona 1836, 228 um das J. 105, so fällt sein Tod, da er nach Ps.-Luk. a. O. ein Alter von 82 Jahren erreicht hat, um 23 v. Chr. Wann er aus Pergamon, wo er seine Lehrthätigkeit begonnen hatte, nach Rom übergesiedelt ist, lässt sich schwer feststellen. Genoss M. Calidius, wie Blass Gr. Bereds. 156 annimmt, in Rom den Unterricht A.s, so müsste derselbe, da Calidius im J. 47 gestorben ist, einige Jahre vorher nach Rom gekommen sein. Wurde A. erst durch Caesar nach Rom berufen, so müsste er, da Octavian 63 geboren ist, in den fünfziger Jahren Pergamon verlassen haben. Indes kann Calidius den A. schon in Pergamon gehört haben (Piderit 7. Susemihl 504, 197), und A. kann auch schon viel früher in Rom gelehrt haben. Hieronymus setzt seine ἀκμή ins Jahr 64 (65 nach cod. Amandinus): A. …, praeceptor Calidii et Augusti, clarus habetur. Die Datierung ist begründet in dem Process des Q. Gallius vom J. 54, in dem Calidius und Cicero sich gegenüber standen (v. Wilamowitz Herm. XII 367); wahrscheinlich ist aber auch Augusts Geburtsjahr auf den Ansatz nicht ohne Einfluss geblieben (Hillscher Jahrb. f. Philol. Suppl. XVIII 1892, 393, 7). Schon der Umstand, dass Caesar gerade den A. unter der grossen Zahl griechischer Rhetoren zum ‚Erzieher des praesumptiven Thronfolgers‘ (Wilamowitz) auserwählt hat, spricht für das grosse Ansehen des Mannes. Dazu kommen ausdrückliche Zeugnisse. Strabon zählt ihn unter den ἄνδρες ἐλλόγιμοι Περγαμηνοί auf und fügt hinzu ὀνόματος ἠξίωται μεγάλου. Nachdem Quintilian III 1, 8ff. in seiner bekannten Übersicht über die Entwickelung der griechischen Rhetorik Hermagoras, Athenaios, Apollonios Molon, Areios, Caecilius und Dionysios von Halikarnassos aufgeführt hat, fährt er fort § 17: praecipue tamen in se converterunt studia A. et Theodorus (vgl. auch Sen. contr. X praef. 15. Tac. dial. 19). Auf A.s Namen wurden rhetorische Lehrbücher gefälscht (Quint. III 1, 18), natürlich, um ihnen ein grösseres Ansehen zu geben. Er wurde der Stifter einer einflussreichen Redeschule, der Sekte der Apollodoreer, zu denen die Theodoreer, die Anhänger seines (jüngeren) Nebenbuhlers Theodoros von Gadara, in scharfen Gegensatz traten (Strab. XIII 625. Quint. III 1, 18. II 11, 2. V 13, 59. Sen. contr. II 1, 36. Anon. Segu. I 427ff. Sp. öfters). Aus seiner Schule ging eine grosse Anzahl namhafter Schüler, Römer sowohl wie Griechen, hervor. Von Römern werden uns ausser Octavian und Calidius (Teuffel-Schwabe Röm. Litt. Gesch.⁵ 399) genannt der Dichter C. Valgius Rufus, der die Lehren des Meisters nach dessen mündlichen Vorträgen am sorgfältigsten unter allen Schülern in lateinischer Sprache bearbeitet und weiter ausgeführt hat (Quint. III 1, 18. 5, 17; über ihn Teuffel-Schwabe⁵ 541 f.; Citate aus dieser Ars bei Quint. III 5, 17f., wo Ritschl Opusc. III 269 auf iambischen Rythmus aufmerksam macht, und V 10, 4), Clodius Turrinus der Vater, der Freund des Rhetors Seneca, aus einer mit Caesar durch Gastfreundschaft [2888] verbundenen Familie, Schüler A.s in Rom nach 43 (Sen. contr. X praef. 14–16. Piderit 17ff.), Vipsanius Atticus (Sen. contr. II 5, 11, wo H. J. Müller unter Berufung auf Baumm 19f. die gewaltsame Änderung Weicherts für Vipsani [codd.] Dionysio mit Unrecht in den Text setzt; Kiessling Ind. zu Sen. 556 hält den Vipsanius für einen Tochtersohn des T. Pomponius Atticus; s. dagegen Piderit 16f. Susemihl 505, 202), Bruttedius Niger (Sen. contr. II 1, 35f., wohl nicht identisch mit dem Aedilen des Jahres 22 n. Chr. und Freunde des Seianus, von dem Tac. ann. III 66. Iuven. X 82f. berichten; beide identificieren Kiessling Ind. 533f. Teuffel-Schwabe⁵ 664, trennen von einander Piderit 19ff. Susemihl 505, 202). Unbestimmt ist das Schülerverhältnis bei einem Matius, dem A. sein (verlorenes) Lehrbuch der Rhetorik zugeeignet hat, ein überaus trockenes Compendium (Quint. III 1, 18. Tac. dial. 19. Strab. XIII 625 τέχναι; Matius ist wohl eine Person mit dem treuen Anhänger des Caesar und Octavian und Freunde Ciceros, über dessen Charakter und Sprache Schmalz Comm. Wölfflin. Leipz. 1891, 267–274 handelt, s. auch Teuffel-Schwabe⁵ 423f.). An einen Domitius endlich (vermutlich den bekannten Domitius Marsus, der sich auch mit Rhetorik beschäftigt hat, s. Teuffel-Schwabe⁵ 543f.) hat A. ein Sendschreiben gerichtet, in dem er ausdrücklich die Urheberschaft an den unter seinem Namen umlaufenden Lehrbüchern (ausser dem an Matius übersandten) ablehnt. Unter den griechischen Schülern des A. werden zwei Landsleute von ihm genannt: Dionysios mit dem Beinamen Ἀττικός aus Pergamon, nicht blos als Rhetor, sondern auch als Historiker und Redenschreiber berühmt (Strab. XIII 625), offenbar der Atticus, den Quint. III 1, 18 als den sorgfältigsten griechischen Bearbeiter des apollodorischen Systems heraushebt (über ihn Blass 157f. Brzoska De canone X orat. Att. quaest., Bresl. Diss. 1883, 64. Baumm 19f. Hillscher 393. 372) und Volcacius Moschos aus Pergamon, rhetor notissimus und Declamator, um 20 v. Chr. aus Rom verbannt, nach Massilia übergesiedelt und dort 24 n. Chr. gestorben (Sen. contr. II 5, 13. Tac. ann. IV 43. Hor. epist. I 5, 9 u. Porphyrio z. St. Buschmann Charakteristik d. griech. Rhet. b. Rh. Sen., Parchim Gymn. Progr. 1876, 20. Bursian Jahresber. XXII 1880, 141f. Baumm 13ff. Brzoska 64f. Hillscher 393. Kiessling Herm. XXVI 1891, 634f.). Mit grösster Wahrscheinlichkeit zählt man endlich den Schülern A.s den Caecilius aus Kalakte zu, auf den sich Quint. IX 1, 12 (vgl. III 1, 18) für Lehrmeinungen des A. beruft (Burckhardt Caecilii rhet. fragm., Basel 1863, 5. Blass 156. 175. Wilamowitz 333, 12. Rohde Rh. Mus. XLI 176 Anm. Weise 7. 13f.). Sehr mit Unrecht will Buschmann 7 in dem leidenschaftlichen Niketes, auf dessen Art zu declamieren Gallio das Scherzwort plena deo angewandt hat (Sen. suas. 3, 6f.), einen Schüler und Anhänger des A. erkennen.

Die Frage, ob A. öffentlich als Declamator aufgetreten ist, wird man verneinen müssen. Jedenfalls führt der Rhetor Seneca, der doch mehrere seiner Schüler erwähnt und mit ihm eine Zeit lang in Rom zusammengelebt hat, von ihm keine controversia an (vgl. auch Quint. V 13, 59). [2889] Suasorien hätte er schon deshalb nicht declamieren können, weil er sich mit dem genus iudiciale begnügte (s. u.). Wichtiger ist die Frage, ob A. entschiedener Atticist gewesen ist (Brzoska 67f.). Es erscheint ganz unwahrscheinlich, dass ein Mann, der sich so eingehend mit rhetorischer Technik befasst hat, mit den Asianern, die sich auf ihre ἀπαιδευσία in diesen Dingen viel zu gute thaten, etwas gemein haben sollte. Dazu kommt, dass die Apollodoreer – doch gewiss nach dem Vorgange ihres Meisters – zur Begründung ihrer Lehren sich auf die Praxis der ἀρχαῖοι, der alten attischen Muster, beriefen (Anon. Segu. 431. 441). Bedeutsam ist der Umstand, dass Caesar, der feinste Atticist, den Rom je hervorgebracht, gerade den A. zum Erzieher seines Neffen ausersehen hat; bemerkenswert scheint auch, dass ein grosser Teil von A.s Schülern und Bekannten sich aus Kreisen rekrutiert, die Caesar sehr nahe stehen (so Calidius, Turrinus, Matius). Besonders bezeichnend ist indes die Thatsache, dass zwei seiner Schüler, ein Grieche und ein Römer, den Beinamen Atticus führen. ‚Einer der Bahnbrecher und Hauptvertreter der neuattischen Richtung‘ unter den Römern ist sein Schüler Calidius (Teuffel-Schwabe⁵ 398), und Caecilius ist der bedeutendste griechische Atticist im augusteischen Zeitalter neben Dionysios. Gegen die Nachahmung der Asiaticorum oratorum inanis sententiis verborum volubilitas nimmt Octavian nachdrücklichst Stellung (Suet. Aug. 86). Gegenüber der Schwülstigkeit und Manieriertheit der Asianer, dem furere atque bacchari, erstreben A.s Schüler Einfachheit und Reinheit des Stils (subtilitas und elegantia) und äusserste Masshaltung im Ausdruck und in der Action; dabei verfallen sie nicht selten in einen kraftlosen und mattherzigen, ja frostigen Ton (s. mit Bezug auf Calidius Cic. Brut. 276; ad fam. VIII 9, 5; auf Octavian Suet. Aug. 86. Fronto ep. p. 123; auf Turrinus Sen. contr. X praef. 15, wo Apollodorum zu lesen ist; vgl. auch Tac. dial. 19). Kurz, es lässt sich in A.s Schule eine bewusste Reaction gegen den asianischen Barockstil nachweisen. A. freilich zum ‚Begründer des Klassicismus‘ d. h. der atticistischen Reaction zu machen, ist eine gewagte Vermutung von Wilamowitz 333, 12. 367 (dagegen Rohde 175f.). Vielmehr wird auch A. seine Vorgänger gehabt haben und zwar, wie es scheint, in seiner Vaterstadt Pergamon selbst.

A. wurde, wie gesagt, Stifter einer besonderen Redeschule. Sein Gegner war Theodoros. Da auch dieser Atticist war, so kann der Gegensatz der beiden Schulen in dem Gegensätze des Atticismus und Asianismus nicht gesucht werden; für einen solchen würde auch Strabon zweifellos ein Verständnis gehabt haben, während er von der Ἀπολλοδώρειος αἵρεσις sagt: ἥτις ποτ’ ἐστί· πολλὰ γὰρ ἐπεκράτει, μείζονα δὲ ἢ καθ’ ἡμᾶς ἔχοντα τὴν κρίσιν, ὧν ἔστι καὶ ἡ Ἀ. αἵρεσις καὶ ἡ Θεοδώρειος (vgl. auch Quint. II 11, 2). Danach scheint es, als ob es sich in dem Streite der beiden Schulen nur um uninteressante oder schwerfassbare Detailfragen der rhetorischen τέχνη gehandelt habe, während ein principieller Gegensatz nicht vorgelegen habe (Blass 157. Rohde 181). Um hierüber entscheiden zu können, müssen wir in Kürze die Systeme der beiden Schulen mit einander vergleichen [2890] (vgl. ausser Piderit 26ff., Schneidewin, Susemihl, Schanz, Ammon noch Graeven Cornuti artis rhet. epit., Berlin 1891 und Volkmann Rhetorik²). Beide Systeme schlossen sich an das des Hermagoras an. Ein principieller Gegensatz tritt gleich in der verschiedenen Auffassung von dem Wesen der Rhetorik hervor. Den Apollodoreern ist sie eine ἐπιστήμη, eine Wissenschaftslehre mit θεωρήματα ἀδιάπτωτα καὶ μίαν ἔχοντα τὴν φύσιν, den Theodoreern eine τέχνη, eine blosse Kunstfertigkeit mit θεωρήματα κινούμενα καὶ ἄλλοτε ἄλλην ἀναλαμβάνοντα φύσιν (Anon. Segu. 431. Sopat. V 4 W. Quint. II 15, 21). Abweichend ist demgemäss auch die Definition der Rhetorik bei beiden. Nach A. ist erste und wichtigste Aufgabe des Redners persuadere iudici et sententiam eius ducere in id quod velit, also das Überreden schlechthin (Quint. II 15, 12; Umschreibung der allgemein angenommenen Definition ῥητορικὴ πειθοῦς δημιουργός = ἐπιστήμη Spengel Rh. Mus. XVIII 1863, 482ff). Notwendige Voraussetzung dazu ist, dass die themata fixa et tuta sind (Sen. contr. I 2, 14). Die in der Definition fehlende (aristotelische) Einschränkung κατὰ τὸ ἐνδεχόμενον findet sich bezeichnenderweise bei Theodoros (Quint. II 15, 21. Spengel 522. Ammon 235). Den Umfang der Rhetorik beschränkt Theodoros auf die materia civilis d. h. auf Gegenstände aus der beratenden und gerichtlichen Beredsamkeit (Quint. II 15, 21; zum Ausdruck civilis vgl. Quint. II 15, 15. 20. Graeven XXXVII 3). A. verengert das Gebiet noch mehr und begnügt sich mit der gerichtlichen Beredsamkeit allein (Quint. III 1, 1. II 15, 12. Anon. Segu. 441. 442; dies muss man festhalten, um die stricten Forderungen der Apollodoreer bezüglich der Redeteile zu verstehen). Nach Quint. II 15, 21 scheint Theodoros selbst nur drei Teile der Rhetorik unterschieden zu haben: εὑρετική, κριτική, ἑρμηνευτική; vermisst wird ὑπόκρισις und μνήμη. Seine Schule band sich an diese Teilung nicht; nach Quint. III 3, 8 nahmen die Theodoreer in der Regel eine doppelte Invention, des Inhalts und des Ausdrucks, an und liessen die übrigen drei Teile (doch wohl Anordnung, Memorieren, Vortrag) nachfolgen; sie wichen sonach nur in der Form, nicht in der Sache von der allgemein angenommenen Fünfteilung ab (Spengel 506). Ob A. und seine Schule diese Fünfteilung beibehalten haben, lässt sich mangels bestimmter Zeugnisse nicht entscheiden; jedenfalls legten sie ein Hauptgewicht auf die εὕρεσις (Piderit 28f.). Während Hermagoras die πολιτικὰ ζητήματα in θέσεις und ὑποθέσεις einteilte, erklärt A. einen solchen Unterschied für überflüssig (vermutlich um die dadurch veranlasste Confusion in Betreff der Status zu beseitigen, Volkmann IX 1) und erkennt nur eine ὑπόθεσις an, der eine θέσις stets zu Grunde liege (gegen ihn polemisiert Augustin. rhet. 5 p. 140 H.). Theodoros, der nach Suid. s. Θεόδωρος eine Monographie über die θέσις schrieb, nennt die θέσις ähnlich κεφάλαιον ἐν ὑποθέσει (Theon II 120 Sp., der freilich θέσις dem κρινόμενον des Hermagoras gleichsetzt). Der Terminus κεφάλαιον ist dem theodoreischen System besonders eigen und kommt darin in verschiedener Anwendung vor (Quint. III 11, 27). So unterscheidet Theodoros zwischen capita generalia (= κεφάλαια γενικά), gleichbedeutend mit den quaestiones (= [2891] ζητήματα) des Hermagoras, A. und der meisten ändern Rhetoren, und capita specialia (= κεφάλαια εἰδικά), s. Quint. III 11, 3f. 27. Eine Definition der causa = ὑπόθεσις des A. nach Valgius findet sich in zwei Fassungen bei Quint. III 5, 17 (vgl. auch Sen. contr. II 1, 36). Ebendort (vgl. auch IV 1, 50) lesen wir die Definition der περίστασις = negotium; danach unterschied A. seltsamerweise 10 peristatische Elemente μόρια περιστάσεως bei Hermagoras, στοιχεῖα τοῦ πράγματος bei Theodoros nach Augustin. rhet. 7 p. 141 H.), die höchste überlieferte Zahl, 3 mehr als Hermagoras, davon die scripta et non scripta einer weiteren Einteilung der ζητήματα πολιτικά bei Hermagoras in ein γένος λογικόν und νομικόν entlehnt (vgl. Quint. III 5, 4. Volkmann 37). Ähnlich wie A. die περίστασις, definierten andere (Theodoreer ?) die ὑπόθεσις (Quint. III 5, 18). Während A. den üblichen Terminus στάσις beibehielt, setzt Theodoros dafür κεφάλαιον γενικώτατον oder κεφάλαιον schlechthin (Quint. III 6, 2. 51. 11, 27. Hermog. II 133 Sp.). Mit Hermagoras und den meisten andern Rhetoren wird A. den Status in eo quod probamus erblickt haben, Theodoros sah ihn in eo ex quo probamus (Fortun. I 27 p. 101 H.). In der Haupteinteilung der Status stimmen beide überein (Hauptstelle: Quint. III 6, 35f.). Beide fragen, 1) ob eine Handlung geschehen ist (gewöhnlich στοχασμός, bei A. πραγματικόν, bei Theodoros περὶ οὐσίας) und 2) wenn sie geschehen ist, wie sie zu beurteilen ist (bei A. περὶ ἐννοίας, bei Theodoros περὶ συμβεβηκότων). Unter 2 fallen die übrigen Status, deren A. zwei gelten lässt: ποιότης und περὶ τοῦ ὀνόματος, gewöhnlich ὅρος genannt, während Theodoros vier annimmt: τί (auch περὶ τῆς ἰδιότητος, Rh. Gr. IV 479 W.), ποῖον, πόσον, πρός τι (zusammen also fünf, s. Quint. III 6, 51). Für die παραγραφαί (Volkmann 84f.) verlangt Theodoros zwei διηγήσεις (Anon. Segu. 443). Bezüglich der ἀντικατηγορία stellt A. die richtige Ansicht auf, dass sie zwei controversiae in sich schliesse (Quint. VII 2, 20. Piderit 33. Volkmann 110). Als Teile der Rede stellt A. die bekannten vier auf: προοίμιον, διήγησις, ἀποδείξεις (Anon. Segu. 453; auch ἀγῶνες? Anon. III 570 W. Max. Plan. V 220. Doxop. II 125, 3 W., wo nach Graeven LXIV 1 Lehre der Apollodoreer überliefert wird), ἐπίλογος. Dieselben Teile unterscheidet auch Theodoros. Die Apollodoreer vereinigen das προοίμιον und den ἐπίλογος unter dem Begriffe des παθητικόν (Anon. Segu. 431), die διήγησις und die ἀποδείξεις unter dem des πραγματικόν (Anon. Segu. 441. Max. Plan. V 220 W.). Bezüglich des Aufbaus der ganzen Rede stellt Schanz folgende Differenzpunkte zwischen den beiden Schulen auf:

1) Die Apollodoreer sagen: die vier Teile der Rede sind wesentlich für dieselbe; es darf daher in einer Rede keiner fehlen. Demgegenüber behaupten die Theodoreer: von den vier Teilen der Rede ist nur einer, die Argumentation, wesentlich; die übrigen können fehlen, ja müssen manchmal fehlen (vgl. mit Bezug auf die διήγησις: Sen. contr. II 1, 36. Anon. Segu. I 441.453. Quint. IV 2, 4. Theon II 76 Sp. Dion. Hal. ars rhet. 389 R. Volkmann 149; προοίμιον: Anon. Segu. 430ff. Quint. IV 1, 72. Anon. VII 64. Volkmann 146; ἐπίλογος und ἀποδείξεις: Anon. Segu. 431. 453). [2892]

2) Die Apollodoreer sagen: die Reihenfolge der vier Redeteile ist eine unabänderliche: προοίμιον, διήγησις, ἀποδείξεις, ἐπίλογος. Die Theodoreer behaupten: es giebt keine unabänderliche Reihenfolge der Redeteile (Anon. Segu. 442. Quint. IV 2, 24. Anon. VII 53, 7 = VI 512, 44 W.).

3) Nach der Ansicht der Apollodoreer bildet jeder Teil der Rede ein untrennbares Ganze; nach der Ansicht der Theodoreer kann eine Zerreissung des Redeteils statthaben (Anon. Segu. 443. 457. Quint. V 13, 59).

4) Die Apollodoreer behaupten, dass Eine Hypothesis auch nur einmal die verschiedenen Teile der Rede haben kann, d. h. die Rede ist ein einheitliches, in sich geschlossenes Kunstwerk. Die Allgemeingültigkeit dieser Regel wird von den Theodoreern bestritten (Anon. Segu. 443. 433. Anon. VII 53, 16. 68. III 570 W.). Bezüglich der einzelnen Redeteile werden uns ausserdem noch folgende Lehren überliefert: a) προοίμιον. Eine Definition der Apollodoreer glaubt Graeven XXXIXf. bei Nikol. III 450 Sp. = II 6. 123 W. zu finden. Hauptzweck des Prooimions ist παρασκευάζειν τὸν δικαστὴν πρὸς ἀκρόασιν (Anon. Segu. 442). Die nähere Aufgabe teilen uns Anon. Segu. 431. Anon. VII 53 W. mit (s. dazu Graeven Ausg. 7 Anm.). Danach behielten die Apollodoreer von den drei gewöhnlich angenommenen Punkten: εὔνοια, προσοχή, εὐμάθεια die beiden ersten bei und zählten, wie wir aus Quint. IV 1, 50 erfahren, im übrigen eine Menge von species auf, nach denen der Richter vorzubereiten sei (vgl. auch Rufus I 463 Sp. Tac. dial. 19: longa principiorum praeparatio; Anschluss des Hermogenes an A. vermutet Volkmann 139). Von Theodoros erfahren wir den Satz, man solle den Richter, um ihn für sich zu gewinnen, ad potentissimas quaestiones schon im Prooimion vorbereiten (Quint. IV 1, 23, der gegen die Allgemeinheit des Satzes Bedenken äussert). b) διήγησις. Die Definition des A. (περιστάσεως ἔκθεσις) wird von Alexandros Numeniu als zu allgemein und weit getadelt (Anon. Segu. 434; ziemlich freie Übersetzung bei Quint. IV 2, 31), aber auch die des Theodoros (Anon. Segu. 434) findet seine volle Billigung nicht. Auf A. führt Schneidewin die beim Anon. Segu. 435 überlieferten εἴδη der διήγησις, die παραδιήγησις und ἀντιδιήγησις, wovon jene wieder in προδιήγησις, παραδιήγησις und ἐπιδιήγησις zerfällt, zurück (‚ganz im Geiste der narrationis alte repetita series‘ Tac. dial. 19; vgl. auch Sen. contr. II 5, 11 mit Bezug auf Vipsanius. Baumm 18f.). Ebenso sollen nach Schneidewin die ebendort 440 aufgezählten τρόποι διηγήσεως: αὔξησις, μείωσις, εὐφημία, παράλειψις, ἐπανάμνησις, ἐπὶ τὸ κρεῖττον ἢ χεῖρον φράσις, ἐνάργεια auf die Apollodoreer zurückgehen. Von den drei Eigenschaften einer διήγησις, der σαφήνεια, συντομία, πιθανότης, lassen die Theodoreer nur die letzte bestehen (Anon. Segu. 437. 439. Quint. IV 2, 32. Schol. Aphthon. II 14 W. Volkmann 153f.). Ob die Apollodoreer die übliche Dreizahl beibehalten haben (Schanz, Ammon), erscheint zum mindesten zweifelhaft. Die multarum divisionum ostentatio der Apollodoreer (Tac. dial. 19) bezieht sich vielleicht auf die πρόθεσις und mag etwa den divisiones in den controversiae entsprechen. Die auf die κατάστασις bezügliche Stelle im Anon. Segu. 440 weist Graeven [2893] den Theodoreern zu. c) ἀποδείξεις. Aus Quint. V 13, 59f. und Tac. dial. 19 geht hervor, dass A. sich sehr eingehend mit der rhetorischen Topik befasst hat. Darin befand sich ein Kapitel über Epichireme (Quint. V 10, 4). Quint. V 13, 59 bezieht sich auch auf Theodoros. d) ἐπίλογος. Graeven LXIV 1 vermutet, dass die bei Doxop. II 124f. W. (aus Nikol. III 451) mitgeteilte Bestimmung der Aufgabe des Epilogs den Apollodoreern angehöre. Für den Epilog kommen nach der Lehre der Apollodoreer dieselben Fundstätten in Betracht, wie für das Prooimion (Graeven zu Anon. Segu. 427. Anschluss an A. bei Hermog. II 149, 7 Sp.). Das Kapitel über die ἑρμηνεία nahm in dem System des Theodoros nach dem über die εὕρεσις und κρίσις den dritten Platz ein (Quint. II 15, 21: ars .…. enuntiatrix decente ornatu). Seine Anhänger unterschieden zwischen einer inventio rerum und inventio elocutionis (Quint. III 3, 8). Überliefert wird uns nur ein hierher gehöriges Fragment bei Ps.-Long. π. ὕψ. I 248 Sp. Theodoros nannte das unzeitige und masslose Pathos παρένθυρσον. Auf die Lehre vom Ausdruck bei A. bezieht sich nur die eine Notiz bei Quint. IX 1, 12 in Betreff der Figuren (vgl. auch Sen. contr. X praef. 10 mit Bezug auf A.s Schüler Moschos). Vermutungsweise gelangt Schanz durch Vergleichung von Quint. IX 1, 10ff. mit Alex. π. σχημ. III 11f. 9 Sp. zu einem fünften Differenzpunkte zwischen den beiden Schulen. Nach Ansicht der Apollodoreer hat jeder λόγος sein σχῆμα von Natur aus, nach Ansicht der Theodoreer kann ein λόγος sein σχῆμα auch willkürlich durch μίμησις, nicht allein durch φύσις erhalten. Auch dieser Satz der Apollodoreer ist also nicht allgemein gültig. Für die Lehre von der ὑπόκρισις und μνήμη haben wir keine Fragmente gefunden.

Fassen wir jetzt alles, was wir über die Systeme der beiden Schulen zusammengestellt haben, vergleichend zusammen, so kommen wir mit Schanz zu dem Ergebnisse: A. und Theodoros unterscheiden sich in dem Materiellen der Rhetorik nur unwesentlich. Die Abweichungen in der Terminologie, in den Definitionen, in rhetorischen Details sind zu geringfügig, als dass sie hinreichen könnten, eine so gewaltige Bewegung, wie sie der Streit der beiden Schulen hervorgerufen hat, zu rechtfertigen und zu erklären. Der bedeutungsvolle Gegensatz der beiden Sekten besteht darin, dass die Apollodoreer die Frage: Sind die Gesetze der Rhetorik ausnahmslos? bejahten, während die Theodoreer sie verneinten. Der Grund für diesen Gegensatz lag darin, dass die Theodoreer überall den Nützlichkeitsstandpunkt (συμφέρον, χρεία) betonten, bei den Apollodoreern die in der Sache liegende Naturnotwendigkeit (φύσις, ἀνάγκη) das Massgebende war. Dieser principielle Gegensatz ist der Gegensatz von Analogie (Apollodoreer) und Anomalie (Theodoreer), der zu gleicher Zeit und auf gleichem Boden auch auf den Gebieten der Grammatik (Caesar, A.s Gönner, war Analogist!) und Jurisprudenz zu grossen Kämpfen geführt hat. Für die Praxis war die Stellung zu der Frage von wesentlicher Bedeutung. Den Anhängern des Theodoros stand es frei, je nach der Beschaffenheit des Stoffes nach eigenem Gutdünken Anlage und Ordnung der [2894] Rede zu ändern. Dagegen mussten sich die Redner aus A.s Schule für den Aufbau der Rede in ganz feste, unverrückbare Normen zwingen. Diesem verschiedenen Standpunkte entspricht die verschiedene Bestimmung des Wesens und des Begriffs der Rhetorik (s. o.). Mit der Festigkeit und Schablonenhaftigkeit des Systems hängt es zusammen, dass A.s Schüler, wenn sie sich ihm eng anschlossen, viel von ihrer ursprünglichen Kraft und Frische verloren (so Turrinus, Sen. contr. X praef. 15f.). Mit der rednerischen Praxis war der starre Dogmatismus schwer vereinbar. Er stiess daher auf scharfen Widerspruch nicht blos bei Zeitgenossen wie Theodoros (dessen Monographie περὶ τῆς ῥητορικῆς δυνάμεως, Suid. s. Θεόδωρος, bezeichnend ist) und seiner Schule, auch des Dionysios von Halikarnassos, der wiederholt betont, dass dem καιρός Rechnung getragen werden müsse (Morawski Rh. Mus. XXXIV 1879, 371, wo indes dem Theodoros irrtümlich derselbe Standpunkt eingeräumt wird wie dem A.), sondern auch später, so bei Quintilian und den Quellenschriftstellern des Anon. Segu., besonders Alexandros Numeniu und Neokles. Übrigens waren die Streitobjecte der beiden Schulen zum Teil alt. An zwei Beispielen, der Lehre von der Erzählung und der Definition der Rhetorik, weist Ammon nach, dass die Gegensätze auf Isokrates und Aristoteles und ihre Zeitgenossen zurückgehen, dass sie, nie ganz erloschen, nur zurückgetreten, von den beiden Schulen von neuem angefacht worden sind. Gegenüber der herrschenden (vorwiegend isokratischen) Schulrhetorik, vertreten durch die Apollodoreer, hätten die Theodoreer die aristotelischen Lehren aufs neue stärker betont.

Litteratur: Piderit De A. Pergameno et Theodoro Gadarensi rhetoribus, Marburg Gymn. Progr. 1842. Schneidewin Neue Jen. allg. Litt.-Zeit. II 1843, 220f. Blass Griech. Bereds. bes. 155–160. Schanz Herm. XXV 1890, 36–54. Ammon Bl. f. d. bayer. Gymn.-Wes. XXVII 1891, 231–237. Susemihl Gr. Litt.-Gesch. II bes. 504–511.