Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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skythischer Philosoph und Entdecker um 600 v. Chr.
Band I,2 (1894) S. 2017 (IA)–2018 (IA)
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Anacharsis (der Versuch von L. Meyer Kuhns Ztschr. f. vgl. Sprachf. V 162, den Namen aus indogermanischer Wurzel zu erklären, ist gegenstandslos geworden durch den Nachweis von C. Neumann Die Hellenen im Skythenland, dass die Skythen Mongolen waren), ein Skythe aus fürstlichem Geschlecht, Sohn des Gnuros (Herodot. IV 76. Diog. Laert. I 101. Schol. Plat. rep. X 600 A; des Dauketes nach Lucian. Scyth. 4), Bruder des Königs Saulios (des Kaduidas nach Diog. Laert. I 101), erscheint bei Herodot als ein (seinen Landsleuten übrigens zu Herodots Zeit unbekannter) Mann, der, eine Ausnahme von der sonst allgemeinen skythischen Rohheit bildend (Herod. IV 46), sei es aus eigener Wissbegierde, sei es im Auftrag des Skythenkönigs (IV 77) Reisen besonders in Griechenland machte, um höhere Gesittung kennen zu lernen; nach seiner Rückkehr sei er, im Begriff, den von ihm in Kyzikos kennen gelernten Dienst der Göttermutter (nach Schol. Plat. a. a. Ο. Diog. Laert. I 102. Jos. c. Ap. II 269 griechische Sitten) einzuführen, von seinem Bruder erschossen worden (ganz verkehrt Clem. Al. protr. 2, 24). Bestimmend für die weitere Ausspinnung seiner Biographie ist 1) die an ältere idealisierende Auffassungen von den nordischen Völkern (A. Riese Die Idealisierung der Naturvölker des Nordens 1875 bes. S. 17ff.) angeschlossene, vielleicht in einer besonderen Schrift zu Anfang des 4. Jhdts. v. Chr. (R. Heinze Philol. L 458ff.) niedergelegte kynische Darstellung des A. als des unverdorbenen, freien Natursohnes im Gegensatz zu griechischer Verfeinerung und Verderbnis, 2) seine Versetzung unter die sieben Weisen an Mysons Statt (Diog. Laert. I 41; Polemik gegen die dem Barbaren erwiesene Ehre bei Diod. IX 5. Diog. Laert. I 106) durch Ephoros von Kyme (F. E. Bohren De septem sapientib. 1867, 31. C. Neumann Die Hellenen im Skythenlande 314f.; Platon kennt ihn noch nicht unter den Sieben, Prot. 343 A, sondern nur als praktischen Mann, rep. X 600 A), der ihm auch die Erfindung von Töpferscheibe, Anker und Blasebalg beilegte (skeptisch dagegen Strab. VII 303. Schol. Apoll. Rhod. I 1276). Er sollte (Bohren a. a. O. 47) unter dem Archon Eukrates im J. 592 (demnach datiert wohl CIG 6855 d, B 3–6 nicht ganz genau) nach Athen gekommen und zu Solon in nähere Beziehung getreten sein (Plut. Sol. 5. Diog. Laert. I 101f.; nach eigener Erfindung Luc. Scyth. 1ff.). Er nimmt an dem Weisheitswettkampf und den Gastmählern der Sieben (Bohren 48–64) teil in der zu seinen Aussprüchen schlecht stimmenden Eigenschaft eines skythischen ἀκρατοπότης (Athen. X 437f. 445f. Ael. var. hist. II 41); Luc. Scyth. 8 und Himer. or. 30 lassen ihn auch in die Mysterien eingeweiht werden (Lobeck Aglaoph. I 282 b). Aussprüche von ihm werden seit Aristoteles (anal. post. 78 b 30; eth. Nicom. 1176 b 33) durch viele Schriftsteller überliefert; unvollständige Sammlung derselben bei J. C. Orelli Opusc. Graecor. vet. sentent. II 200ff. und F. W. Mullach Fragm. philos. Gr. I 232ff. An die ihm [2018] von Dio Chrys. XXXII p. 415 Dind. und Diog. Laert. I 103f. beigelegten Aussprüche über Gymnastik knüpft Lucians Dialog A. an. Die auf seinen Namen gefälschten Schriften zeigen ihn durchgängig als Vertreter des kynischen Standpunktes, werden also mit der Wiederbelebung des Kynismus im 1. Jhdt. v. Chr. zusammenhängen (Marcks Symb. crit. ad epistologr. Graecos 8ff.). So die 10 Briefe (die 9 ersten aus cod. Parisin. 3011 und Laur. plut. LVII 51, der 10. aus Diog. Laert. I 105; erste Ausg. v. Aldus Μanutius epist. Gr. vet. 1499; sonstige alte Ausgaben verzeichnet bei F. J. P. Tollens Quaestiones Anacharsideae, Leyden 1843, 10; neueste in Herchers Epistolographi Graeci 1873, 102ff.; über den Charakter Heinze a. a. O. 464), deren fünften Cic. Tusc. V 90 übersetzt; eine skeptische Schrift gegen die theoretische Philosophie, von welcher Sext. Emp. adv. dogm. I p. 202, 24ff. Bekker ein Stück erhalten hat; 800 Verse (oder Zeilen: Birt Das ant. Buchw. 168) über skythische und hellenische Gebräuche, von Einfachheit des Lebens und Kriegsgebräuchen, von welchen Diog. Laert. I 101 (= Suid.) redet, die aber vielleicht nie existiert haben (Hiller Rh. Mus. XXXIII 529). Kritische und exegetische Bemerkungen zu den Apophthegmen bei Tollens p. 12ff.; zu den Briefen bei A. Westermann Comment. crit. in scriptores Graecos III (1851) 6–8. Cobet Mnemos. N.S. X 48f. Hertlein Jahrb. f. Philol. CIX 219. Hercher Herm. VI 56f. G. Schepss De soloecismo 56 (zu ep. I). v. Wilamowitz Comment. gramm. III (1889) 28f. (zu ep. V).