Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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griechischer Verfasser einer Taktik
Band I,1 (1893) S. 482 (IA)–486 (IA)
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10) Verfasser einer Taktik, nach der Überschrift (τακτικὰ Αἰλιανοῦ) in den massgebenden Hss.; die Subscription im Laur. 55, 4 Αἰλιανοῦ ἀρχιερέως τακτικὴ θεωρία ist wohl den Anfangsworten der Schrift selbst entnommen; die Bezeichnung ἀρχιερέως scheint auf Verwechslung mit Claudius A. (Nr. 11) hinzudeuten (Suid.). Angeführt wird A. von Joa. Lydus de mag. I 47; Kaiser Leo VI. (886–911) tact. VI 30. VII 86. 87 (Meursii Opp. VI = Migne Patrol. 107), tact. ined. 30 (Köchly Diss. IV 35); Constantin in seiner Taktik hat nur Leo ausgeschrieben (Hardt Catal. codd. mss. bibl. r. Bavar. IV 408. Hirsch Gött. gel. Anz. 1873, 496). Seine Zeit bestimmt sich nach der Schrift selbst (Einl. 1. 3. 4. 6. Cap. I 2) auf das Ende des 1. und den Anfang des 2. Jhdts. n. Chr. Denn er spricht von Nerva als dem Vater des in der Einleitung angeredeten Kaisers und erwähnt ihn, sowie Frontin (dessen Name auch I 2 jedenfalls für Φρόντωνι einzusetzen ist; vgl. Frontin. ed. Gundermann [483] XII. Fronto ed. Niebuhr XXXI. Dederich Ztschr. f. d. Altertumswiss. VI 1839, 1077ff. Köchly Kriegsschriftst. II 1,90ff. Förster Herm. XII 446ff. Teuffel § 327, 4) als Zeitgenossen. Die hiemit nicht im Einklang stehende Widmung an Hadrian (Einl. 1) ist wohl auf spätere Verwechslung mit Claudius A. zurückzuführen, welche die Einsetzung von Ἁδριανέ in die Hss. nach sich zog (Köchly änderte es in Τραιανέ). Die Schrift ist also (nach Einl. 3. 4 veranlasst durch den Wert, welchen der ums J. 103 gestorbene Frontin in der Unterredung bei einem Aufenthalte A.s in Formiae der griechischen Taktik beilegte) unter Nerva begonnen, herausgegeben unter Traian, auf welchen auch das überschwengliche Lob der Kriegserfahrung und des Feldherrntalents (Einl. 4. 6) viel besser passt, als auf Hadrian (nach 103, wegen der Erwähnung Frontins I 2 τῷ καθ’ ἡμᾶς ἀνδρὶ ὑπατικῷ). Es wäre doch auch schwer verständlich – um von der Beziehung auf Alexander d. Gr. (Einl. 6) abzusehen – wenn A. die Herausgabe einer unter Traian (vor 103, wegen der Erwähnung von Frontin, Einl. 3) begonnenen Schrift in der Widmung an Hadrian als durch dessen ausserordentlichen Kriegsruhm veranlasst hinstellte (bei dieser Annahme müsste Νέρουᾳ – nicht Ἁδριανέ – ausgeschieden werden, Einl. 3). Vgl. Köchly Diss. I 5ff. 21ff. II 12ff.; Kriegsschriftst. II 1, 85ff. II 2, 291. Förster 430ff. 444ff. Schenkl Jahresber. XXXVIII 270f. Schäfer Quellenk. II § 87, 4.

Über die Persönlichkeit A.s lässt sich, ebenfalls nur auf Grund seiner Schrift, soviel sagen, dass er jedenfalls Grieche war und ihn wohl seine litterarische Bildung mit den höheren Kreisen in Rom in Berührung brachte (vgl. Einl. 1. 3); ferner dass er nicht aus eigener Erfahrung spricht, sondern als Theoretiker, dass er also nicht Soldat war (Einl. 2). Die Veranlassung zur Abfassung der Taktik ist bereits oben erwähnt; doch spielte hiebei auch der persönliche Ehrgeiz seine Rolle: A. fühlte sich befähigt und berufen, den Gegenstand besser zu behandeln, als seine Vorgänger (Einl. 1. 4. 5. 6. Cap. I 4–6). Ja er hat, nach seiner ausdrücklichen Versicherung (Einl. 7) ein ausführliches Inhaltsverzeichnis deshalb vorausgeschickt (nach dem Muster von Plinius), damit der Kaiser bei seiner vielseitigen Beschäftigung stets rasch finden könne, was ihn gerade interessiere. Er rechnet also auf Benützung – auch ein Beitrag zur Charakteristik des Mannes.

Der sprachliche Ausdruck ist gewandt und sorgfältig, zuweilen etwas weitschweifig; A. liebt lange Perioden und führt dieselben meist gut und streng durch; die Folge ist allerdings, dass der Inhalt nicht immer gleich fasslich ist.

Den Inhalt der Schrift bildet, nach A.s eigner Erklärung in der Einleitung, die griechische, d. h. griechisch-makedonische, Taktik. Im wesentlichen haben wir ein Lehrbuch der Elementartaktik der Hoplitenphalanx hellenistischer Zeit vor uns, und zwar verfasst von einem Manne, der nicht als militärischer Fachmann, sondern von rein theoretischem Standpunkte aus den Stoff behandelte, dazu dem behandelten Stoffe auch zeitlich ferne stand. Doch hat er nach seiner Versicherung alle älteren Quellen benützt und nennt als solche im ersten [484] Capitel eine Anzahl erhaltener und verlorener Schriftsteller (Aineias und dessen Epitomator Kineas, Pyrrhos und dessen Sohn Alexandros, Klearchos, Pausanias, Euangelos, Polybios, Poseidonios u. s. w.); auch führt er gelegentlich Vorgänger an (so III 4 Aineias und Polybios, letzteren auch XIX 10; VIII 3 οἱ πλείους τῶν τακτικὰ γραψάντων; XXIV 4 παρὰ πᾶσι τοῖς τακτικοῖς). In wieweit er allerdings diese im Original eingesehen oder nur aus den Anführungen bei anderen gekannt hat, ist im einzelnen fraglich; eine Hauptquelle war wohl die verlorene Taktik des Polybios. Die merkwürdige Thatsache, dass er die Taktik des Asklepiodotos (s. d.), eines Schülers des Stoikers Poseidonios, ausschreibt, aber dieselbe unter seinen Quellen gar nicht nennt, findet ihre einfachste Erklärung wohl darin, dass wir in der unter Asklepiodots Namen überlieferten Taktik das vom Schüler herausgegebene oder bearbeitete Werk des Meisters, der ja I 2 genannt wird (ebenso Arr. I 2), erblicken; oder man müsste Asklepiodotos unter die ἄλλοι τε πλείονες miteinbegriffen denken. Denn dass Asklepiodotos wie A. aus der verlorenen Schrift des Poseidonios selbständig geschöpft haben sollten, diese Annahme macht die allzu grosse Übereinstimmung, zum Teil bis ins einzelne hinein, unwahrscheinlich. Der Wert der Schrift des A. ist also ein beschränkter, wenn auch der Zweck, eine Übersicht über den gesamten Stoff zu geben (vgl. Einl. 5. Cap. XXII 1), im grossen und ganzen erreicht ist, was auch die Benützung durch Spätere zeigt (vgl. Köchly Diss. II 11ff. 50. III 48; Kriegsschriftst. II 1, 74ff. 86ff. Haase Encycl. v. Ersch und Gruber III 21, 427f. Förster 430ff.). Die Schrift A.s ist in zwei Recensionen überliefert: 1) der ursprünglichen, sogen. Florentiner, 2) der später überarbeiteten, sogen. Pariser, in welche ganze Abschnitte (Cap. 36ff.) neu eingeschoben sind. Leo setzt letztere Überarbeitung voraus. Die in der Pariser Recension am Schlusse angehängten Capitel (teilweise abgedruckt bei Robortelli 61–63 und hieraus bei Gesner 603–605. Köchly Kriegsschriftst. II 1, 550ff.), sowie das in der Florentiner Recension zwischen Inhaltsverzeichnis und Einleitung eingeschobene Stück (Robortelli 66f. Gesner 611. Köchly 232ff.) gehören nicht zur Schrift. Die Florentiner Recension, allerdings nur in jungen Abschriften, hat zuerst Köchly seiner Ausgabe zu Grunde gelegt, unter Heranziehung von Vertretern der Pariser; alle früheren Ausgaben und Übersetzungen gehen auf schlechte Vertreter der Pariser Recension zurück (vgl. Haase De milit. script. edit. instit. [Berol. 1847] 27ff. 34ff. Köchly Diss. I 14ff. II 4ff. 27ff. 35ff. IV; Kriegsschriftst. II 1, 208ff. 472f. 524ff. Wescher Poliorcétique d. Grecs XXVff. Graux Rev. de philol. N. S. III 1879, 100ff. IV 1880, 88ff. K. K. Müller Festschrift f. L. Urlichs [1880] 106ff.; Festgabe z. 3. Säcularf. der Univ. Würzburg von Gramich, Haupt, Müller 30ff. Förster Philol. XLII 1883, 169).

Die von Köchly in seiner Ausgabe und vorher in den unten aufgeführten Programmen, sowie in der Geschichte des griechischen Kriegswesens aufgestellte Ansicht, dass die unter A.s Namen überlieferte Taktik eine jüngere Bearbeitung [485] Taktik Arrians durch einen unbekannten Verfasser sei, und dass diese letztere – mit Ausnahme des Arrian wirklich zugehörigen Stückes über die Übungen der römischen Reiter (32, 3 bis Schluss) – dem A. beigelegt werden müsse, während die von Arrian verfasste Schrift verloren gegangen sei, eine Ansicht, die einen vollkommenen Bruch mit der Überlieferung bedeutete, ist von Förster aus sprachlichen und anderen Gründen als unhaltbar nachgewiesen worden. Auch die Gründe, welche Köchly, ohne genügende Kenntnis der Hss., aus diesen für seine Ansicht entnehmen zu können glaubte, hat die genaue Untersuchung der Hss. als nicht stichhaltig erwiesen. Gegen Köchlys Ansicht kann jetzt auch noch die arabische Übersetzung der Taktik A.s angeführt werden, die mit Nennung des Namens – allerdings leider nur bruchstückweise – einem Werke über das muhammedanische Heerwesen eingefügt ist. Lebte auch der Verfasser dieses Werkes erst im 14. Jhdt., so geht doch die von ihm benützte Übersetzung, wie die meisten derartigen, jedenfalls auf das 9/10. Jhdt. zurück. Hiefür spricht auch der Umstand, dass ihr ein besserer Text zu Grunde liegt, als ihn unsere besten, dem 10/11. Jhdt. angehörigen Hss. bieten. Vgl. Das Heerwesen der Muhammedaner und d. Arab. Übersetz. d. T. d. A. von Wüstenfeld. Gött. 1880 [S. A. a. Abhandl. d. Ges. d. Wiss. XXVI]. Hammer Sitzungsber. Akad. Wien. XV (1855) 38ff. Wenrich De auctor. graec. versionib. 4ff. Klamroth Zts. d. D. Morgenl. Ges. 42 (1888) 43f. Beim Wiederaufblühen des Studiums der Alten wurde A. früher und mehr als die übrigen griechischen Taktiker abgeschrieben und übersetzt, auch früh herausgegeben; er hat also auch damals einen gewissen Einfluss ausgeübt; vgl. Haase de lat. codd. mss. subscript. 18f. Gebelin 8ff.

Litteratur: Für die Übersetzungen, ältere Litteratur und alle Einzelheiten verweise ich auf Engelmann-Preuss, Hoffmanns Bibliograph. Lexicon d. ges. Litterat. d. Griech.² und Gebelin (Quid rei milit. doctrina renascentibus litteris antiquitati debuerit. Burdigalae 1881), dessen Angaben übrigens unvollständig und nur mit Vorsicht zu gebrauchen sind. Ed. princ. v. Franc. Robortelli Ven. 1552. Hieraus abgedruckt sind die Ausgaben von Conr. Gesner (in: Cl. Aeliani Opp. Tig. 1556) und Sixt. Arcerius (Lugd. Bat. 1613, einzeln und mit Leo zusammen); Arcerius fügte Anmerkungen bei, die zur Erläuterung des Textes dienen. Griech. Kriegsschriftsteller. Griech. und Deutsch m. krit. und erklär. Anmerk, von H. Köchly und W. Rüstow II 1. II 2, 239ff. Lpzg. 1855, Köchly: I) De libris tacticis, qui Arriani ei Aeliani feruntur, diss. Turici 1851 = Opusc. acad. I. II) Dissertationis de l. t., qui Arriani et A. f., supplementum 1852 = Opusc. acad. I. III) Libri tactici duae, quae Arriani et A. f., editiones emendatius descriptae et inter se collatae. 1853. IV) De scriptorum milit. graec. cod. Bernensi diss. 1854 [Angeführt als: Diss. I. II. III. IV]. Rüstow und Köchly Gesch. d. griech. Kriegswesens XVI 104ff. 235ff. Hercher Lit. Centralbl. 1852, 454. Abicht Arrians Anab. p. 8. Förster Hermes XII (1877) 426ff. Schenkl Jahresb. XXXIV 185 XXXVIII 270f. Böhner Acta semin. phil. Erlang. [486] II 506f. Grundmann Quid in elocut. Arriani Herodoto debeatur (Berol. 1884) 83ff. Meyer De Arriano Thucydidio (Rost. 1877) 35ff. Eberhard Arriani scripta min. R. Hercher iterum recogn. p. LIX. Bolla Arriano … (Torino 1890) 64f. Haase N. Jahrb. f. Philol. XIV (1835) 100ff. 114. XVII (1836) 213. Marquardt Röm. Staatsverw. II² 594f. Bauer in Müllers Handb. der klass. Altertumswiss. IV 188ff. Droysen in Hermanns Lehrb. d. griech. Ant. II 2, 35ff. Jähns Gesch. d. Kriegswiss. (Münch. Lpzg. 1889) I 5ff. 94ff. 130ff. de Sérignan La phalange. Étude philol. et tact. s. les formations d’armées des Grecs … Par. 1880 (teilweise Übersetzung von Arrians Taktik mit mangelhaftem Commentar).