Noch eine Wanderung durch Deutschland in London

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Noch eine Wanderung durch Deutschland in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 231–232
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Noch eine Wanderung durch Deutschland in London.

Zugesandte Billets riefen uns neulich zu einem Concert in den hochfashionablen Hanover-Square-Saal (Hanover Square Rooms), die uns zunächst in Verlegenheit setzten, da wir zweifelten, aus unserer Garderobe so viel Putz und Perlen zusammenzufinden, wie die Engländerinnen bei solchen Gelegenheiten tragen (ich spreche mehr im Interesse meiner Frau). Doch entschlossen wir uns endlich zur ökonomischen Einfachheit, die nach einem Sprunge aus den Kreisen, welche nicht viel Wahl in ihrem Kleiderschranke haben, plötzlich als Krone des Geschmacks in den gewähltesten Cirkeln herrschend wiederkehrt. Nur die geldreiche, geschmacksarme, große vornehme Menge trägt künstliche Blumenausstellungen, Posamentier- und Juwelierläden auf Köpfen und Schultern, dazu hellste Blondinen das schreiendste, modige Scharlach- und Ziegelroth auf Burnus und Shawl, olivenfarbig reflectirende Brünetten mattes Blau, so daß man nichts Prachtvolleres und Geschmackloseres im Verein sehen kann, als in einem englischen Concertsaale oder in den Logen eines Westend-Theaters. Offenbar erregten wir mit unserer völlig decorationslosen, den Umständen und dem Teint entsprechenden Einfachheit nicht geringes Aufsehen unter des dichtgedrängten Perlen-, Blumen- und Juwelenkopsen der vornehmen Concertgesellschaft, und ich wette darauf, daß wir für schwindelnd hochgestellte Personen gehalten wurden. „Siehst Du,“ sagte ich zu meiner Frau, „hättest Du Dein lebensgefährliches Attentat auf meime kränkelnde Kasse ausgeführt und einen modigen, rothen englischen Concertmantel und einen entsprechenden Kopfbesatz gekauft, säßen wir hier tiefgesunken unter dem modesklavischen, vornehmen Pöbel. Jetzt sitzest Du hier mit Deinem natürlichen Haarschmuck, Deinem kettenfreien Halse, beneidet durch Lorgnetten und Operngucker wegen Deiner erhabenen Stellung im Leben, auf welche ich, wenn ich wollte, vom ersten besten Gentleman hier 100 Pfund Sterling geborgt bekäme.“ Wir lachten herzlich über diesen Einfall, der nicht nur wohlfeil, sondern mit einem direkten Profit verbunden war, welchen nur der Gatte und Familienvater als Krankenpfleger einer stets an die Vergänglichkeit allen Irdischen erinnernden Kasse zu würdigen weiß. Als nun die Deutschen im Concerte, Herr und Madame Weiß, Madame Rudersdorf, Herr Rabich von der weimarischen Kapelle und deutsche Compositionen, vorgetragen von Engländern und Engländerinnen, einen Triumph nach dem andern feierten und sehr oft wiederholt werden mußten, sagte ich zu meiner Frau: „Siehst Du, auch deutsche Kunst siegt hier, nicht blos Deine deutsche Einfachheit im bloßen Dasitzen und Zuhören.“ Das Concert, um 8 Uhr beginnend und in ununterbrochener Hetzjagd von Orgel, doppeltem Fortepiano, Violine, Soli’s, Duetts, Terzetts, Quartetts, Posaune u. s. w. bis nach Mitternacht um 1 Uhr sich zur Höllenqual für die erschöpften Nerven ausdehnend, war nur in dieser endlosen Massenhaftigkeit ächt Englisch, in seiner künstlerischen Schönheit aber sowohl der Leistungen als der Compositionen wesentlich Deutsch, triumphirend Deutsch. Ich will nicht von Herrn und Madame Weiß und Madame Rudersdorf sprechen, sondern nur die hier zum ersten Male erschallende, Todte zur Auferstehung rufende, berühmte Virtuosen-Tenor-Posaune des Herrn Rabich aus Weimar als ein Kunstereigniß bezeichnen, als welches es sich geltend machen wird, da sich wirklich Todte von ihr auferwecken ließen, und verschlossene Kunsthallen und Anerbietungen dem Meister öffneten. Herr Rabich hat sein Instrument seit 25 Jahren mit ununterbrochenem Eifer und mit zunehmender Liebe und Hingebung studirt und mit einem kräftigen, lebhaften, tiefen Gemüth (ohne welches kein Instrument zum wirklichen Kunstorgan wird) Töne und Melodien darin gefunden, die nur ihm gehorchen, und bald als Ton des Weltgerichts schmettern, bald in der zartesten, gehauchten, kaum hörbaren Weichheit noch tiefer in das Herz hineingreifen, als der Donner den jüngsten Gerichts, das sich dann wieder aus diesen Blechröhren hervorstürzt. Man erfährt und fühlt hier erst wieder die Gewalt und Schönheit des wirklichen, beseelten Tons, der in der neuesten musikalischen Richtung durch allerhand Schnörkel und Künstelein, durch einen „schollernden“ und „pickernden“ Klimperkasten in jedem Hause verschüttet und verwahrlost ward. Die Schönheit des Tons läßt sich nicht mit Worten sagen, eben so wenig wie die Schönheit der Helena im Homer, der deshalb ihre Wirkungen schildert. Wir machen’s eben so. Das glänzende, dichtgedrängte Publikum beklatschte Alles von 8 Uhr Abends an bis 1 Uhr des Morgens, aber sie sprachen, husteten, schnupften, rückten und rührten sich dazwischen. So wie Rabich seine Posaune angesetzt hatte, entstand Todtenstille, so daß man den wie ein einsames Veilchen verduftenden Hauch eines Tones bin zu seinem letzten Verstummen bis in die fernsten Winkel des Saales vernehmen konnte und kalte Gesichter warm wurden und ausdrucklose Gesichter zu sprechen anfingen. Diese Todtenstille hielt noch einige Secunden nach dem letzten Tone an, dann kam das Publikum erst zur Besinnung und stürmte auf und schrie aus tausend Kehlen encore, encore! (was das englische da capo ist). Jenny Lind’s Stimme ist bekannt. Rabich spielte einem hiesigen Componisten eins seiner Lieder in dessen Hause, wo es auch Jenny Lind gesungen hatte. Bei Jenny Lind hatte er sich bedankt, dem Rabich fiel er mit den Augen voller Thränen um den Hals, so wie er ihm das Lied geblasen. Rabich hat hier wirklich Todte auferweckt und er wird auf sehr hohes Verlangen damit fortfahren.

Zugesandte Billets riefen uns neulich in’s Panoptikon, das wir früher schon einmal geschildert haben, sich aber seitdem durch deutsche Elemente sehr bereichert hat und sichtlich von Deutschen vor einem Bankerotte gerettet wird. Für das prachtvoll ausgestattete photographische Departement fand es keinen geeigneten Photographen, so daß es eine allgemeine Preisbewerbung ausschrieb. Das Comité bekam Legionen von Einsendungen von den photographirenden Legionen Englands, erkannte aber den Preis einem Deutschen in Frankfurt, Herrn Professor Fink zu, den es demnach berief. Herr Fink hat das photographische Departement des Panoptikon bereits zur vollkommensten Anstalt in London erhoben, und einige neueste Erfindungen (z. B. durchsichtige Photographieen, nach Art der Lithophanien als Dekorationen an Fensterscheiben sehr in Aufnahme) technisch so fein ausgebildet, daß Niemand mit ihm concurriren kann. In der musikalischen Abtheilung giebt es viel schlechte Musikanten und Sänger, und nur einen guten Clavierspieler, einen Deutschen. Auch das Quartett ist gut. Es besteht aus zwei Deutschen, einem Italiener und einem Engländer. Aber dabei blieb die Mißverwaltung der Panoptikon-Direktoren mit ihrem Nepotismus eben so groß, wie die im Staate überhaupt. Man sann auf Mittel, das Publikum wieder heranzuziehen, und fand endlich in einer spanischen Quartett-Gesellschaft im Kostüm das siegreichste Zugmittel.

Die Billets luden uns ein, diese Spanier zu hören. Sie traten auf die Estrade des Theaters vor der großen Orgel in malerischer Nationaltracht, schwarzbärtig, rothshawlig, mit breitkrämpigen Hüten, die einzige Dame mit den brennenden Farben in Mieder und Besatz des kurzen Rocks, die Herren riesig, Einer goliathisch. Mit einem freudigen Schreck empfing das Publikum die ersten Töne. Gesang, bloßer, reiner Gesang, frisch, gewaltig, sprudelnd, neckisch, leidenschaftlich, jetzt als Fuge kämpfend, dann in die einfachsten, bekanntesten, lieblichsten deutschen Volksmelodien versöhnt zusammenfließend. Wie kommen deutsche Volksmelodien in die Kehlen dieser spanischen Riesen? Wo kommen die Riesen in dem verkommenen Spanien her? Ich hätte sie eher für Spandauer als für Spanier gehalten. Ja, sagte mir ein Deutscher, der sie kannte, es sind eigentlich keine Spanier, sondern Basken. Also da capo. Bravo, ihr frischen, kräftigen Basken! Bravo und encore und Basken! stürmte es aus allen Etagen und Winkeln den Hauses. Sie mußten da capo singen und sangen den ganzen Abend allein, sangen blos, und nur die große Orgel machte den Schluß. Das kalte englische Publikum, stark mit deutschen Gesichtern und Stimmen gemischt, war Feuer und Flamme über diese [232] Basken, die sich hernach während der dissolving views in Civil unter das Publikum mischten. Ich bekam den riesigen Basken in meiner Nähe stark in den Verdacht, daß er weniger ein Baske, als ein Berliner oder Bunzlauer sei. Ein zweiter baskischer Riese, der sich zu ihm stellte, erinnerte mich unwillkürlich an das frankfurter Viertel in Berlin, and als sie gar zusammen Deutsch sprachen, fragte ich ihn ohne Weiteres, ob wir uns in diesem Leben nicht schon vor dem cotbusser Thore in der Nähe der Hasenheide in Berlin begegnet wären. Freilich! Was half das Läugnen? Kurz, die berühmten baskischen Spanier erwiesen sich alle als Deutsche; blos die Dame ist eine Französin, aber eine deutsche Französin aus dem Elsaß. Sie machen als Spanier mit ihren frischen, kräftigen Stimmen und den deutschen Volksmelodien beispiellos brillante Geschäfte im Panoptikon. Ich verdenke ihnen das spanische Nationalkostüm nicht, da die Deutschen keins haben, und selbst die Uniformen, woran man das höhere Deutschland erkennt, an jeder Grenze sich in ein paar Dutzend uniformirten Ständen nach allen Richtungen des Regenbogens und der Zuschneidescheere verlieren.

Aus dem Panoptikon ist es nicht weit nach den beiden größten deutschen Buchhandlungen Londons, D. Nutt und Williams und Norgate. Ersterer hat seine Diener und Arbeiter und Arbeitsstunden erweitern müssen, um die sich von Tage zu Tage steigernde Arbeit, das Bedürfniß der deutschen Literatur in England zu befriedigen, einigermaßen zu bewältigen. Doch können Arbeiter und Diener nicht so schnell eingelernt werden, als das Geschäft mit sich bringt, so daß man das ganze große Haus fortwährend in Aufregung übertriebener Arbeit findet. Williams und Norgate haben ihre beschränkte Räumlichkeit zu einem großen Hause mit einer weiter Buchhalle vergrößern müssen.

Von älteren, neuern und neuesten deutschen Vereinen in London kann ich gar nicht reden, da ich jeden Augenblick von andern und noch neueren höre. Im Westend, in der City, im Ostende, überall deutsche Vereine und Kneipen. Ich will im Mittelpunkte stehen bleiben, bei Kerb in Cliffords-Inn-Passage, Fleetstreet bei Temple bar, wo seit einigen Wochen sich jeden Sonnabend eine „deutsche Discussions-Gesellschaft“ versammelt, bestehend aus Literaten, Kaufleuten, Künstlern, Mechanikern u. s. w. mit stets frischem Zuwachs, da Jeder, der hinkommt, sofort Mitglied ist und es bleibt, bis er wieder fortgeht. Diese Liberalität verdankt die Gesellschaft den englischen Discussions-Clubs. Deutsche Vereine, als solche, haben immer gern etwas Staatspolizeiliches und machen die Mitgliedschaft von Paragraph So und So abhängig (die eigentliche Staatspolizei kann sie dieser Concurrenzmacherei wegen auch nicht leiden). Ich will dieses jüngste Produkt des gesteigerten deutschen Lebensgefühls in London noch nicht schildern, es ist eben noch zu jung. Aber auf eine charakteristische Erfahrung, die ich darin gemacht, muß ich aufmerksam machen. Es trat in den bisherigen Discussionen kein politischer Parteistandpunkt hervor. Demokraten, Aristokraten, Republikaner, Constitutionalisten, Monarchisten – Alles todt! nichts wie eine politische und eine volkswirthschaftliche Partei, Politiker und Naturalisten. Erstere machen das Heil der Welt noch von politischen und diplomatischen Künsten abhängig, letztere behaupten, daß diese Künste der Natur- und Kulturnothwendigkeit gegenüber immer bedeutungsloser werden und die Macht über den Gang der Weltgeschichte auf Eisenbahnen und Dampfschiffen, in Waarenballen und an elektrischen Drähten bereits verloren haben. Der Gegensatz zwischen den Politikern und Naturalisten ist ein sehr lebendiger und interessanter, und giebt mehr Bürgschaft für das Gedeihen der deutschen Discussionsgesellschaft, als wenn sich blos politische Parteien etwa über die beste Form der Freiheit, über die Pflicht der Friedens-Konferenzen oder eines europäischen Kongresses (falls er zu Stande käme) und dergleichen in die Haare fielen.

Auch von deutschen Zeitungen und Zeitschriften in London ist die Rede. Die großen deutschen Buchhändler gehen mit einem Plane zu einer deutschen Monatsschrift um. In andern Kreisen arbeitet man an einer wöchentlich erscheinenden deutschen Zeitung. Die beste Bürgschaft für eine deutsche Presse in London sind zwei wöchentlich erscheinende deutsche Blätter, welche im Ganzen so miserabel sind, daß sich deren Bestehen nur durch das dringende Bedürfniß, daß überhaupt etwas Deutsches geboten werde, erklären läßt.

Hier mag es bemerkenswerth erscheinen, daß sich auch in einem wohlfeilen englischen Zeitungs-Organe, dem täglich zwei Mal in einem großen Folio-Bogen erscheinenden „Morgen- und Abendstern“ („Morning Star[WS 1] und „Evening Star“) ein deutsches Element geltend macht. Die Redaction des ausländischen Theils mit Original-Correspondenzen ist einem deutschen Literaten übergeben worden.

Von der steigenden Bedeutung des industriellen und merkantilen deutschen Elements in London ließe sich viel sagen. Vielleicht berichtet darüber eine kundigere Feder. Ich erwähne nur, daß mir neulich ein englischer City-Kaufmann selbst nachwies, daß die reichsten und bedeutendsten Kaufleute im Mittelpunkte des Welthandels, der City von London, Deutsche seien und englische Firmen nur als Compagnien, nicht als einzelne Geschäftsleute, größer seien.

Politische Leute und Zeitungen kitzeln sich und Andere mit der Vorstellung, daß Diplomaten in Paris den holden Frieden zwischen Osten und Westen wieder hergestellt hätten oder wenigstens dieses Kunststück noch fertig kriegen würden. Das ist politische Schwärmerei, an der kein wahres Wort ist. Der Friede zwischen Osten und Westen kann nur durch Deutschland hergestellt werden und wird fortwährend hergestellt durch den steigenden Einfluß der deutschen Kultur und Bevölkerung in England und Rußland. In beiden Ländern reicht sie bereits vom Throne durch alle Kulturphasen hindurch bis herab zum Schuster und Schneider. Deutschland vertritt bereits persönlich in aller Welt den Zusammenhang der Kultur, die Gemeinsamkeit der Völker-Interessen, und wird thatsächlich einmal den ewigen Frieden herstellen und verbürgen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Horning Star