Textdaten
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Autor: Hermann Raster
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Titel: New-Yorks Hafen und Umgebung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 477–479
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: New-York City und seine Entwicklung
Das Thor Amerika’s
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Das Thor Amerika’s.[1]
1. New-Yorks Hafen und Umgebung.
Von H. Raster.


New-York ist die drittgrößte deutsche Stadt der Welt, soweit die Größe nach der Einwohnerschaft bemessen wird, denn außer Berlin und Wien hat keine andere eine größere Zahl deutscher Einwohner. Weiter freilich reichen die Ansprüche von New-York auf den Namen einer deutschen Stadt nicht. Der Einfluß, welchen die deutschen Bewohner derselben auf die Gestaltung ihres Charakters und ihrer Bedeutung als eine commercielle Weltstadt üben, steht keineswegs im Verhältniß zu ihrer Kopfzahl. Das ist deshalb nicht zu verwundern, weil unter ihnen selbst diejenigen Bedingungen, welche äußere Geltung oder moralischen und gesellschaftlichen Einfluß bestimmen, sich in weit geringerer Proportion vorfinden, als unter der gleichstarken seßhaften Bevölkerung einer Stadt in Deutschland. Mehr als neun Zehntel der Deutschen, die sich in New-York niederlassen, oft auch nur kleben bleiben, weil ihnen die Mittel zur Weiterreise in’s Inneres des Landes fehlen, gehören dem Arbeiterstande an. Sie sind durchweg sehr nützliche und willkommene Mitglieder des Gemeinwesens und sehr viele von ihnen arbeiten sich durch Fleiß und Ausdauer binnen kurzer Zeit zu mäßigem Wohlstande, nicht eben wenige sogar zu Reichthum empor, aber sie vermögen das nur, indem sie ihr deutsches Wesen mit größerem oder geringerem Erfolg dem amerikanischen anpassen, und dabei geht denn die Fähigkeit, ihrerseits gestaltend und verändernd auf das amerikanische Wesen einzuwirken, oft leider auch die Lust dazu größtentheils verloren.

Allein, wie dem auch sei, immerhin ist die Stadt New-York eine hinlänglich deutsche, um als solche auch in Deutschland zu gelten. Eine solche Stadt sollte in ihrer äußern Erscheinung wie in ihrem gesellschaftlichen Treiben der Anschauung des deutschen Publicums näher stehen, als es der Fall ist. Man sollte davon so bestimmte Eindrücke haben, wie man sie bei der Nennung der Städtenamen Berlin, Wien, Köln, Frankfurt oder Hamburg hat.

Freilich hat die Stadt weder jene große geschichtliche Vergangenheit aufzuweisen, welche das Gemüth erregt, noch stolze Baudenkmäler, welche als Merkmale und Erinnerungszeichen dieser Vergangenheit dienen. An öffentlichen Sammlungen von Werken der bildenden und darstellenden Kunst fehlt es gänzlich; Alles, was in dieser Beziehung vorhanden ist, befindet sich in den von außen unscheinbaren, innen aber mit fürstlicher Pracht eingerichteten Wohnungen begüterter Privatleute. Gleichwohl hat die Stadt ihre eigenthümlichen Schönheiten, nur muß sie der Realist suchen und nicht der lyrische Dichter. Denn sie sind nicht in Gemüthsbeziehungen auf eine durch die Entfernung in der Zeit verschönte Vergangenheit zu finden, sondern in der Betrachtung des stürmisch brausenden und lärmenden Getriebes einer in titanenhafter Anstrengung breite Grundlagen für eine große, reiche Zukunft legenden Gegenwart, in dem großartigen Kriege, welchen die amerikanische Cultur mit der rohen Naturkraft führt und dessen Hauptquartier die Stadt New-York ist. Nicht in Tempeln und Palästen, welche eine vergangene Gesittungsperiode himmlischen oder irdischen Herrschern errichtet hat, sondern in den Stätten, wo der die bewältigte Naturkraft als Sclavin verwendende Menschengeist zahllose neue Werthe schafft, um allen Menschen diejenigen Lebensgenüsse erreichbar zu machen, die sonst nur wenigen Auserwählten zugänglich waren; in den gewaltigen Speichern, welche die Arbeitserzeugnisse Hunderttausender von Menschen bergen, in den mächtigen Flotten, welche diese Erzeugnisse vertheilen, kurz, in den Wahrzeichen nützlicher, das Wohlergehen und Behagen freier Menschen fördernder Thätigkeit ist die Poesie amerikanischer Großstädte zu suchen und da ist sie auch zu finden.

Und zwar kann man sie in New-York finden, ohne nur die Stadt selbst zu betreten. Bei einer bloßen Umschiffung der Insel, welche die Stadt bildet, drängt sich von allen Seiten eine erdrückende Fülle der buntesten Mannigfaltigkeit von Erscheinungen heran, zu welcher die Natur und die Menschenhand zu gleichen Theilen beigesteuert haben. Der Hafen von New-York ist eine Welt für sich, und wenn von den Hauptstraßen der westlichen Metropole die Rede ist, sollte nicht der Broadway mit seinen meilenlangen Façaden von Marmor, Granit, Sandstein und dem fast ganz verdrängten Backstein, sondern der East-River in erster Reihe genannt werden.

Außer dem Golf von Neapel hat Europa wohl kaum eine Meeresbucht aufzuweisen, welche sich an lieblicher Schönheit mit der von New-York messen kann. Zwar an majestätischer Pracht der Uferbildung muß sie hinter mancher zurückstehen, – die grünen Gefilde von Long Island und die waldigen Hügel von Staten Island und New-Jersey erfrischen und erheitern das Auge, aber blenden es nicht durch imposante Größe. Doch der stillen Großartigkeit des von diesen Feldern und Hügeln eingeschlossenen Wasserbeckens, auf welchem sich die Flotten von ganz Europa in vollster Sicherheit schaukeln können, und der beiden gewaltigen Ströme, die sich von Norden her in dasselbe ergießen, giebt es nichts an die Seite zu stellen. Noch bieten die Ufer dieser Ströme landschaftliche Schönheiten genug dar, die Fernsichten von den felsigen Hügeln auf dem westlichen Ufer des Hudson sind von einer Herrlichkeit, welcher nicht einmal der Pinsel des Malers, geschweige das geschriebene Wort genugthun kann. Aber der Hauptreiz des [478] großen Bildes liegt doch in dem überwältigenden Eindruck von dem, was rastlose menschliche Thätigkeit aus einer für den Verkehr höchst günstigen Lage bereits gemacht hat und noch zu machen sich anschickt.

Die Insel Manhattan, auf deren südlichster Spitze vor dritthalb Jahrhunderten die Holländer das Dörfchen Neu-Amsterdam gründeten und auf welcher noch zu Anfang dieses Jahrhunderts außer dem zur reichen Handelsstadt New-York gewordenen holländischen Dorfe ein halbes Dutzend besonderer Dörfer Platz fand, deren Namen jetzt nur noch als Bezeichnungen für Straßen oder Viertel dienen, ist ein drei deutsche Meilen langer, doch an seiner breitesten Stelle nur zwei Fünftel Meilen, an dem dreiviertel Meile langen nördlichen Zipfel kaum dreitausend Fuß breiter Streifen Landes, welcher einen ungefähren Flächenraum von einer deutschen Quadratmeile hat. Sie liegt zwischen dem fünftausend Fuß breiten Hudsonstrom und einer Nebenmündung desselben oder einem besonderen Meeresarm, welcher durch den Harlemfluß (ebenfalls nur ein Arm des Stromes oder des Meeres) mit ihm in Verbindung steht und den Namen East-River (Oststrom) führt. An der stumpfen Südspitze der Insel vereinigen sich beide und bilden die von der Manhattan-Insel, Long Island, Staten Island und einem langgestreckten Zipfel des Festlandes von New-Jersey eingeschlossene, anderthalb deutsche Meilen lange und eine Meile breite innere Bay oder Rhede von New-York. Durch eine fünftausend Fuß breite Meerenge, auf deren schmales Fahrwasser die riesigen Fünfhundert- und Tausendpfünder der Forts Hamilton und Tompkins gerichtet sind, steht diese innere Rhede mit der äußeren in Verbindung, welche durch das sich in weitem Bogen um Staten Island herumschlingende Festland von New-Jersey gebildet wird und ungefähr drei deutsche Quadratmeilen umfaßt.

Auf dem rechten (westlichen) Ufer des Hudson liegt der Manhattan-Insel eine ihr an Gestalt ähnliche, nur mit dem schmalen Ende nach Süden hinabragende Halbinsel gegenüber durch den Hackensack-Fluß und die zur Newarker Bay ausgeweitete Mündung desselben im Westen begrenzt, ebenfalls drei deutsche Meilen lang, doch an der breitesten Stelle dreiviertel Meile breit. Nur die obere breite Hälfte der ganzen Länge bildet das unmittelbare Gegenüber von New-York, die schmale untere Hälfte ist das Westufer der Bay, im Süden durch einen tausend Schritt breiten Meeresarm von Staten Island getrennt. Die Halbinsel gehört zum Staate New-Jersey und hat bis vor wenigen Jahrzehnten, obwohl ihre Lage für den Handel kaum minder günstig, als die von New-York ist, nur einen spärlichen Antheil von dem Ueberschuß des in der großen Handelsstadt nach Anlagen suchenden Capitals erhalten. Aber seitdem hat sie einen raschen Aufschwung genommen. Zwei Städte (Jersey-City und Hoboken) mit zusammen an achtzigtausend Einwohnern, bilden den Kernpunkt für eine große Handelsstadt, die noch im Laufe des jetzigen Jahrhunderts, wie New-York, ein Dutzend besonderer kleiner Dörfer annectiren und dann bald genug ihrer Million Einwohner gewiß sein wird.

An der Begründung dieser Zukunftsstadt haben die Deutschen einen sehr hervorragenden Antheil. Denn die Stadt Hoboken ist vorwiegend deutsch, so sehr, daß die Communalverwaltung meist in deutschen Händen ist oder wenigstens unter deutschem Einflusse steht. Fast ausschließlich deutsch sind die westlich und nördlich davon im Laufe der letzten zwanzig Jahre hervorgezauberten Ortschaften Hudson-City, Union-Hill, Nord-Hoboken, Weehawken, Guttenberg. Auf den reizend-schönen felsigen Hügeln, welche sich dort bis hart an den Hudson drängen, bestehen volkreiche deutsche Ansiedelungen, in welchen Alles, außer der Bauart der Häuser, deutsch ist und wo an Sonntagen viele Tausende der in enger Häuser dumpfen Gemächern schmachtenden Arbeiterbevölkerung von New-York Erholung und harmlose Genüsse finden. Die auf der schmalen südlichen Hälfte der Halbinsel gelegenen zwölf Dörfer sind dagegen fast ebenso ausschließlich angloamerikanisch mit hier und da noch bemerkbarer Beimischung des ursprünglichen holländischen Elementes.

Zum östlichen Nachbar, nur durch den eintausendachthundert Fuß breiten East-River getrennt, hat New-York die Stadt Brooklyn. Ursprünglich eine bloße Vorstadt, in welcher die New-Yorker Kaufleute stille und behagliche, doch immerhin dem Geschäftstheile der Stadt nahegelegene Wohnsitze suchten, ist Brooklyn in einem halben Jahrhundert zu der an Einwohnerzahl drittgrößten Stadt Amerikas erwachsen. Ihre Bevölkerung zählt, nachdem sie sich vor zehn Jahren durch Annexion der Stadt Williamsburg und der Dörfer Greenpoint und Gowanus abgerundet hat, vollauf eine Drittel Million Seelen, steht also außer der von New-York nur der von Philadelphia nach und hat Boston langst überflügelt. Der Form nach ist sie ein rechtwinkliges Dreieck, dessen die Wasserfront bildende Hypotenuse mehrere Vorsprünge und Einbiegungen hat. Die lange Kathete, von der Gowanus-Bay bis zur dem Dorfe East-New-York, ist ein und drei Fünftel deutsche Meile lang; die kürzere, von East-New-York als Scheitelpunkt bis zur Einmündung des Newtown-Creek in den East-River reichend, ein und ein Achtel Meile. Die unregelmäßig geformte Wasserfronte der Stadt am East-River und der Bai mißt anderthalbe Meile, wovon schon jetzt volle zwei Drittel die erforderliche Tiefe als Anlegeplatz für die größten Seeschiffe haben.

Die Worte „schon jetzt“ bedürfen der Erklärung. In New-York, wie in Brooklyn, Jersey und Hoboken, sind die ursprünglichen, natürlichen Ufer der Ströme bis auf sehr wenige Ueberreste längst verschwunden. Ueberall hat man Land aufgeschüttet und so die Uferfront hinausgeschoben, bis sie an die für die größten Schiffe erforderliche Wassertiefe reichte. Riesenhafte Werke sind in dieser Richtung geschehen. Ueber die elenden aus halbverfaultem, zerbröckelndem und zerfallendem Pfahlwerk bestehenden Werften, welche von den Uferstraßen hunderte von Schritten weit in die Ströme hineinragen, haben schon viele an das solide und glatte Mauerwerk europäischer Häfen gewöhnte Touristen die Nasen gerümpft; aber daß Flächenräume, auf welchen die Einwohnerzahl mehr als eines kleinen deutschen Fürstenthums haust, durch Aufschüttung dem Strome und Meere abgewonnen sind, so daß ganze Flotten von Schiffen am Straßenpflaster anlegen und mit ihren Bugsprieten in die Fenster der Speicher stoßen können; daß auf einer Strecke von mehr als einer deutschen Meile rund um den südlichen Theil der Stadt ein Landstreifen in’s Wasser hinausgebaut worden ist, auf welchem zwei, ja drei Parallelstraßen hinter einander Platz haben – das bringen sie nicht in Anschlag. Was in dieser Richtung geleistet worden ist, davon kann man nur dann eine Anschauung gewinnen, wenn man einen Plan von New-York und seinen Nachbarstädten hat, auf welchem außer der jetzigen Hafenlinie das alte, natürliche Ufer bezeichnet ist. Da sieht man, daß in New-York viele Meilen lange Straßen stehen, wo noch vor hundert Jahren Fluth und Ebbe wechselten; man sieht an der Wasserfront von Brooklyn eine große Meeresbucht, welche noch vor neunzig Jahren der englischen Flotte Raum bot, die Wallabout-Bai, bis auf ein kleines Schiffsbau-Bassin verschwunden. Wo damals auf abgetakelten Schiffsrümpfen Tausende von amerikanischen Freiheitskämpfern durch englische Rachsucht so scheußlich zu Tode gemartert wurden, wie vor drei Jahren in dem Marterpferch zu Andersonville, da stehen jetzt auf trockenem Lande die kolossalen Baulichkeiten des Kriegsbauhafens, aus denen die gepanzerten Thurmschiffe hervorgegangen sind, und die Casernen der Seesoldaten. Und einige englische Meilen weiter südlich ist der Gowanus-Bai Gleiches widerfahren. Mehr als eine englische Quadratmeile Land ist dort bereits in’s Meer hinausgebaut worden. Die zwischen Brooklyn und der Südspitze von New-York gelegene Insel Governors-Island war von dem Ufer dessen, was jetzt Brooklyn ist und damals Feld war, durch ein so seichtes Gewässer getrennt, daß noch vor hundert Jahren die Bauern bei Ebbezeit hindurchwateten, um ihre auf der Insel weidenden Kühe zu melken. Durch die fortwährende Auffüllung hat man das Wasser so verengt und vertieft, daß die schwersten befrachteten Schiffe es unbehindert passiren. Noch heute heißt dieses Fahrwasser zur Erinnerung an jene frühere Zeit der Buttermilch-Canal. Noch Gewaltigeres ist innerhalb des letzten halben Menschenalters auf dem rechten Ufer des Hudson vollbracht worden. Zwischen den Städten Jersey und Hoboken erstreckte sich bis zu Anfang der fünfziger Jahre eine breite, seichte Bucht, zwei bis drei englische Quadratmeilen groß. Schon heute ist sie Festland und der darauf wohnenden nächsten Generation wird kaum noch eine Erinnerung an die Bai übrig sein. Denn man lebt gar rasch in Amerika und hält sich bei einmal Gethanem nicht auf. Was heute vollbracht ist, ist morgen schon alt und nach Jahr und Tag fast vergessen. Am südlichen Ende von Jersey, da wo die Halbinsel sich mit einer plötzlichen Einbiegung zu dem schmalen bis in die Nähe von Staten-Island hinabreichenden Halse verlängert, baut man jetzt ein Areal von einer Sechstel deutschen Quadratmeile in’s Meer hinaus. Mitten im Wasser sieht man da Pfahlwerke von mehreren tausend Fuß [479] Länge eingerammt, die sich schachbretartig kreuzen. An diese Pfahlwerke werden Steine, Erde und Schutt aufgeschüttet, bis sie zu Molen werden; dann werden von diesen aus die dazwischen liegenden Gevierte bewältigt. Binnen einem Jahrzehnt hat man einen neuen Stadttheil und – die Hauptsache – wieder einige Meilen Hafenfront.

So arbeitet hier die Menschenhand rastlos an der Verbesserung der Natur in einer Richtung und auf eine Weise, wie sie in Europa fast völlig unbekannt ist. Nicht blos der fruchtbare Urwald- oder Prairieboden, nicht blos Kohlenfelder und Minerallager, sondern selbst Meeresbuchten, Ströme und Uferbildung sind dem rastlos sinnenden und schaffenden Amerikaner nur Rohmaterial, aus welchem der Mensch erst etwas machen muß. Und welch’ ein Hafen ist auf diese Weise bereits aus New-York gemacht worden! Größer, als je die Welt einen gekannt hat. Die vollständig fertige Hafenlinie, d. h. die Linie der Uferstraßen, an welchen die Schiffe so unmittelbar anlegen können, daß man zwischen der Schiffswand und der Straße sich den Fuß zerquetschen, oder aus einer Kutsche auf die Schiffstreppe steigen kann, ohne den Erdboden zu betreten, beträgt in New-York, Brooklyn, Jersey und Hoboken zusammen bereits zwei und eine halbe deutsche Meile. Und auch das drückt noch bei Weitem nicht die Capacität des Hafens aus. Denn von den Quais springen in rechten Winkeln, auf dem Plane wie Borsten oder Franzen aussehend, die von dreihundert bis sechshundert Fuß langen und fünfzig Fuß breiten Docks (Piers) in das Wasser hinaus, an deren einem bis zu fünf oder sechs Schiffe zum Löschen und Einnehmen von Fracht Raum finden. Die Zahl dieser Piers im ganzen Hafen übersteigt bereits einhundert. Durch sie wird der Uferrand so verlängert, daß ungefähr ebensoviel Schiffe Raum für ihre Längenseite finden, als in Abwesenheit der Piers mit dem Bug am Ufer nebeneinander Platz haben würden. Und überdies bilden die Räume zwischen den Piers (Bulkheads) sichere und bequeme Bassins für Hunderte, ja Tausende kleinerer Fahrzeuge: Schleppboote, Canalboote, Prahmen, Schaluppen, Flachkähne, Jollen, Yachten etc. Wenn, woran nicht zu zweifeln, die ganze Wasserfronte des Hafens zu beiden Seiten beider Ströme in gleicher Weise verbessert wird, so wird binnen hundert Jahren der Hafen von New-York eine Quai-, resp. Docklinie von zwölf bis fünfzehn deutschen Meilen, d. h. mehr als alle Häfen des europäischen Festlandes zusammengenommen, haben.

Doch das hat uns weit von Brooklyn abgeführt und es wird Zeit, daß wir dahin zurückkehren. In jeder Beziehung ist Brooklyn als ein Theil Dessen zu betrachten, was man in Europa unter dem Namen New-York versteht. Der Unterschied zwischen beiden ist kaum so groß, wie der zwischen der Altstadt und der Neustadt von Dresden. In commercieller, industrieller und gesellschaftlicher Beziehung sind beide zusammen nur eine Stadt; blos die communalen Verwaltungsinteressen sind geschieden. Der East-River, durch zahllose Dampffährboote auf wirksamere und bequemere Weise überbrückt, als es durch eine steinerne Brücke geschehen könnte, ist schon heute kaum noch etwas Anderes für New-York und Brooklyn, als die Themse für London, oder die Seine für Paris. Aber so weit es das Wachsthum der Bevölkerung betrifft, hat Brooklyn glänzendere Aussichten als New-York. Das letztere bildet einen geschlossenen Raum und wird mit Bequemlichkeit nicht leicht mehr, als eine Million, mit Unbequemlichkeit höchstens anderthalb Millionen Einwohner fassen können. Für Brooklyn dagegen giebt es gar keine Grenze. Es ist bis jetzt noch nicht zur Hälfte ausgebaut. Meilen über Meilen von Straßen, die auf dem Plane bereits als solche mit Namen bezeichnet sind, sind noch Aecker, Wiesen, Triften und Wald, Hügel, die abgetragen, und Thäler, die aufgefüllt werden wollen. Ist erst die ganze Stadt, so wie sie jetzt auf der Karte aussieht, vollgebaut, so kann sie recht gut eine Million Einwohner haben. Dann aber steht ihr noch in dem Bezirke (County), zu welchem sie gehört, ein doppelt so großer Flächenraum, wie ihr jetziger, als Ellbogenraum zur Verfügung. Die ganze Südwestspitze von Long-Island bis zu der Meerenge hinab, welche zwischen ihr und Staten-Island aus der innern auf die äußere Rhede führt, und ostwärts bis zur Jamaica-Bai wird binnen hundert Jahren zur Stadt Brooklyn gehören. Es sind über zwei deutsche Quadratmeilen, jetzt vertheilt unter die Ortschaften Flatbush, New-Utrecht, Gravesend, Flatlands und New-Lots.

In dieser Richtung ist die materielle Möglichkeit für den Fortgang des beispiellos schnellen Wachsthums der Stadt New York zu suchen. Die Zeit wird kommen und manche der heute schon Lebenden werden sie sehen, wo die Stadt auf der Manhattan-Insel nur die City, die Isle de France der kolossalsten Weltstadt der Erde ist. Für diese Weltstadt werden der Hudsonstrom und der East-River nun nicht mehr Grenzen gegen Nachbarstädte, sondern Hauptstraßen, wie die Canäle in Venedig, sein und die anderthalb Quadratmeilen große Bai ein Marktplatz voll unabsehbaren Getümmels. Die Halbinsel zwischen dem Hudson und dem Hackensack, die der heutigen Generation noch ein Stück landschaftlicher Romantik darbietet, auf deren bewaldeten Hügeln und Wiesen sich der Städter dem Getöse des Erwerbslebens entrückt glauben kann, wird zu einer Großstadt werden, ähnlich dem heutigen New-York. Wahrscheinlich wird auch das drei Viertel Meilen breite Delta zwischen dem Hackensack und Passaiu, an welchem die blühende Stadt Newark, mit 80,000 Einwohnern, liegt und dessen größter Theil jetzt noch aus unbewohnbaren Salzwiesen besteht, mit Ansiedelungen überbrückt sein. Die Stadt Brooklyn wird das ganze heutige Kings-County bedecken und für sich allein so viel Einwohner haben, wie London heute hat. Endlich wird das ihr gegenüber liegende, das Südwestufer der innern Bai bildende, drei Viertel deutsche Meilen lange Nordostufer von Staten Island, welches auch heute schon in seinen vier Ortschaften New-Brighton, Stapleton, Tompkinsville und Clifton ebenso viele Vorstädte von New-York besitzt, in den unmittelbaren Bannkreis der Riesenstadt gezogen sein und diese wird auf die Zeit, wo sie sich mit der Insel Manhattan identificirte, ebenso mitleidig zurückblicken, wie sie heute auf die Zeit sieht, da sie als Neu-Amsterdam nur den untersten kleinen Zipfel jener Insel ausfüllte und die Wallstreet – die amerikanische Threadneedlestreet – die äußerste Nordgrenze des Städtchens bildete. Die Stadt New-York mit Allem, was jetzt nur drum und dran hängt, dann aber einen integrirenden Theil von ihr bilden wird, kann dann leicht (und wird) ihre sechs bis sieben Millionen Einwohner haben.

Wie ganz anders, als heute, wird es dann aussehen! Das, was dem heutigen Bewohner von New-York oder Brooklyn noch als Zufluchtsort für stille deutsche Gemüthlichkeit oder sinnigen Naturgenuß erscheint, wird verschwunden sein, wie hundert andere ähnliche Plätze schon in der Erinnerung der heutigen Generation verschwunden sind. Vor einem halben Menschenalter fand man wenig über eine halbe deutsche Meile nördlich vom Stadthause an der Stelle, wo jetzt eine steife Straße von langweiligen Backsteinhäusern steht, ein kleines, rings von felsigen Hügeln umschlossenes Thalkesselchen, in welchem ein geschwätziger Felsbach über Kiesel und Blumen nach dem Strome hinabsprang. Alles ist dahin: die Hügel sind abgetragen, das Thal ist aufgefüllt, der Bach in eine unterirdische Cloake abgeleitet, und man kennt nur noch eine 42. Straße mit denselben einförmigen Backsteinfaçaden, demselben glatten Trottoir und holprigen Pflaster, wie tausend andere Straßen. Um heute ein ähnlich Stück lieblicher Naturschönheit zu genießen, muß man Meilen weiter nach Norden fahren, oder westwärts über den Strom setzen. Doch so ergeht es überall, wie in New-York, so in Brooklyn.

Weit hinaus an das äußerste Südende von Brooklyn verlegte man vor fünfundzwanzig Jahren eine große Todtenstadt, nicht einen öden Gottesacker mit seinen schaurigen, ernsten Umgebungen, sondern einen paradiesisch schönen Gottespark, einen wonnigen Lustgarten des Todes. Man glaubte ihn für immer dem lärmenden Geschwirr und Getöse der Weltstadt entrückt zu haben. Vergebliche Hoffnung! Wie bei der steigenden Springfluth des Meeres die gierigen Wogen hier und da am Strande herauflecken, ehe der ganze Schwall ihn überschwemmt, so spielen schon jetzt die Straßen- und Häuserbauten rings an die Gehege jenes kleinen Paradieses hinan. O Greenwood, entzückendster aller heiligen Haine, welche jemals die Pietät eines seine dahingeschiedenen Lieben mit mehr als religiöser Innigkeit ehrenden Volks gepflanzt hat, auch du wirst bald in der höher und höher steigenden Fluth des rastlosen Schaffens, in welchem nur der Lebende Recht hat, zu einer Insel werden, die, wie die Halligen der Nordsee, im Getöse der Sturmfluthen allmählich zerbröckelt! Aber mag es darum sein: das Gemüth und das Herz werden sich neue Weihestätten errichten, wenn die alten vergehen. Denn über alle Wandlungen hinaus, welche der Verstand an den äußern Gestaltungen der Dinge vollzieht, behalten sie ihr ewiges Recht und ihre ewige Macht.




  1. Wir eröffnen mit obigem Artikel, aus der Feder des bekannten und geistreichen Correspondenten der Nationalzeitung, eine Reihe von Skizzen über New-York, die in ihrer Gesammtheit ein treues und interessantes Bild der amerikanischen Weltstadt, für uns Deutsche gewissermaßen des Thores von Amerika, liefern werden. Die vorstehende Schilderung will der Verfasser nur als Einleitung angesehen wissen, als eine Art Vogelperspective zur topographischen Orientirung, welcher Detailschilderungen und Genrebilder folgen werden.
    D. Red.