Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Weissagung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 507508
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Weissagung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 507–508. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Weissagung (Version vom 16.09.2022)

[507] Weissagung, in der religiösen Auffassung die durch übernatürliche Eingebung bewirkte und durch den Erfolg bestätigte Vorherverkündigung einer zufälligen künftigen Begebenheit, während Wahrsagung und noch mehr Wahrsagerei auf der Anwendung geheimer Künste zur Erlangung jener anscheinend übernatürlichen Kunde von etwas Verborgenem beruht (s. Mantik). Der den Menschen eigne Wunsch, in die Zukunft zu blicken, sowie anderseits das Streben einzelner, diesen Umstand zur Erlangung höherer Achtung oder zur Bereicherung zu benutzen, hat unter allen Völkern und in allen Zeiten Veranlassung zum Glauben an Wahrsage- und Weissagekunst gegeben, und bei dem allgemeinen Bewußtsein, nicht selbst den Schleier der Zukunft lüften zu können, wurde diese Kraft einzelnen Menschen zugeschrieben, welche man für Bevorzugte der Gottheit hielt. Daß einzelnen begnadeten Menschen solche göttliche Kraft innewohnen könne, ward um so weniger bezweifelt, je geringer die Naturkenntnisse und überhaupt die religiöse, sittliche und wissenschaftliche Kultur waren. Obgleich bei den Hebräern Wahrsagerei durch das mosaische Gesetz verboten war und Moses sein Volk an die Propheten verwiesen hatte, welche der Herr ihm senden werde, so befragte doch selbst König Saul, der die Wahrsager und Zeichendeuter aus seinem Reich verbannt hatte, zuletzt die Wahrsagerin (Hexe) von Endor über sein künftiges Schicksal. Die Juden hatten namentlich aus der babylonischen Gefangenschaft einen Teil der chaldäischen Weltanschauung mitgebracht, nach welcher nicht nur die Bewegungen der Gestirne, sondern auch das kosmische Leben die Schicksale der Menschheit gewissermaßen bewirken und daher widerspiegeln sollten, weil das ganze Naturleben als in Wechselwirkung stehend gedacht wurde. Auch aus dem nahen Persien schlichen sich Wahrsager ein, und vorzüglich waren die Traumdeuter sehr gesucht; ebenso befragte man Totenbeschwörer und Sterndeuter und bediente sich der Eingeweide der Opfertiere, der Lose, der Beobachtung gewisser Tiere (besonders der Schlangen), um daraus zu weissagen. Später wurde das Prophetentum (s. Prophet) zu einer Art öffentlichen Predigtamts, wobei die Mahnungen an das öffentliche Gewissen fast immer mit Weissagungen künftiger Unglücksschläge oder umgekehrt künftiger Erlösung aus dem Unglück verbunden wurden (s. Messias). Über die Wahrsager der Perser s. Magier. Bei den Griechen bildete ein System der W. vollends einen integrierenden Bestandteil der Staatsreligion. Sie verehrten in Gäa und später im Apollon besondere Wahrsagegötter und richteten [508] sich in ältern Zeiten selbst in Staatsangelegenheiten nach den Aussagen ihrer Priester (s. Orakel). Außerdem galten noch insbesondere der unterirdische Zeus von Dodona, Herakles, Orpheus, Trophonios und Äskulap als Vorherverkündigungen gebende Gottheiten, Melampus als ein vergötterter Ahn einer Prophetenfamilie. Nicht selten waren Frauen, die man durch betäubende Erdgase in eine Art Delirium versetzte, die Verkünderinnen der Zukunft, wie denn bei Griechen und Römern die Prophetengabe als eine Art heiligen Wahnsinns dargestellt wurde, z. B. von Platon und Cicero. Die Römer erhoben ein von den Etruskern ererbtes und demjenigen der Chaldäer außerordentlich ähnliches Weissagungssystem zum Regierungsmittel des Volkes. Ihre meist aus Etrurien herbeigerufenen und auf Grund ausführlicher etrurischer Schriften ihr Amt versehenden Augurn (s. d.) und Haruspices (s. d.) waren lange Zeit Staatsbeamte; ihre Weissagungen aus dem Flug und dem Fressen der Vögel, aus den Eingeweiden der geschlachteten Opfertiere, aus den Blitzen und andern Naturerscheinungen waren öffentliche Kultushandlungen. Noch in späterer Zeit, als das Ansehen dieser Weissager von Amts wegen sehr gesunken war, vermißten einzelne Gewalthaber das bequeme Mittel, den Sinn des Volkes zu lenken, und Kaiser Claudius führte einen Senatsbeschluß herbei, der eine Wiederbelebung dieses Kultuszweigs beabsichtigte. In den spätern Zeiten wurde die Privatpraxis durch Chaldäer und Juden geübt. Die germanischen und keltischen Völker legten die Kraft der W. vornehmlich den Frauen (den Alrunen, s. d.) bei, von denen Tacitus zwei, die Velleda und Aurinia, wegen ihres großen Rufs namentlich aufführt, wie auch bei Römern und Griechen einzelne Beispiele vorkommen, z. B. Kassandra etc. In Skandinavien waren die Priesterinnen ganz besonders Weissagerinnen; die Kunst war anfangs bei den Vanen, kam aber durch Freyja zu den Asen. Die Skandinavier unternahmen kein wichtiges Geschäft, ohne eine W. erhalten zu haben, und die Sitte blieb auch, als sich das Christentum unter ihnen verbreitet hatte, obgleich sie mit Strafen bedroht ward. Die germanischen Stämme legten außerdem besondern Wert auf Vorzeichen aus Tierbegegnungen (s. Angang), auf das Werfen des Loses (s. d.) und auf Ordalien (s. d.). Auch die Zweikämpfe gehörten dahin, die man bei Ausbruch eines Kriegs zwischen einem Stammesgenossen und einem Gefangenen der feindlichen Partei anstellte, und nach deren Ausgang man auf den des Hauptkampfes schloß. Ferner weissagte man aus dem Gang, dem Wiehern und Schnaufen der heiligen Pferde, aus dem Geschrei und Flug der Vögel, besonders bei Krankheiten, aus dem Blut und den Eingeweiden der Schlachtopfer, aus dem Wasser und zwar besonders aus dem Wirbeln und Rauschen der Quellen und Flüsse. Auch die Traumdeutung war allen germanischen Stämmen eigen. Das Christentum versuchte umsonst, diese Gebräuche heidnischen Ursprungs zu ersticken; man wendete nunmehr höchstens die Bibel als Losbuch an (s. Stichomantie) und berief sich für die Christlichkeit der öffentlich auf vielen Universitäten gelehrten Chiromantie (s. d.) auf die Bibel. Die ältere Theologenschule legte denn auch auf die biblischen Prophezeiungen ein großes Gewicht, die jüngere weist ihnen ihre Stelle neben den Wundern an und behandelt sie von demselben Gesichtspunkt. Die in Europa auftauchenden Zigeuner brachten die Wahrsagerei in neuen Schwung, und unter den gemeinen Leuten hat sich der Glaube daran bis heute erhalten. Hierher gehören auch die Vorzeichen von Todesfällen durch Ahnungen, das Zweite Gesicht, das Sichdoppeltsehen, das Kartenschlagen, das Wahrsagen aus dem Kaffeesatz, durch Punktieren etc. Nirgends aber gibt man mehr auf diese Kunst als bei den heidnischen Völkern aller Länder und Zonen; die Wahrsager sind zugleich die Priester und Zauberer (Schamanen, s. Schamanismus), und ihr Wirkungskreis ist hier um so größer, da die geistig tief stehenden Menschen alle für sie unerklärbaren Andeutungen für Weissagungen halten. Vgl. Bouché-Leclercq, Histoire de la divination dans l’antiquité (Par. 1879–81, 4 Bde.); Lenormant, La divination chez les Chaldéens (das. 1875), und die Litteratur bei Artikel Magie.