MKL1888:Wanderungen der Tiere

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Wanderungen der Tiere“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 18 (Supplement, 1891), Seite 973975
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Wanderungen der Tiere. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 18, Seite 973–975. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Wanderungen_der_Tiere (Version vom 04.05.2024)

[973] Wanderungen der Tiere. Die Erscheinung tierischer Wanderungen findet sich in fast allen größern Abteilungen des Tierreichs, abgesehen von den niedrigst stehenden tierischen Lebewesen. Im Gegensatz zu der Verschleppung verlassen die Tiere bei der Wanderung aktiv ihren Aufenthaltsort, und meist geschieht dies gleichzeitig von einer großen Zahl von Individuen. Es lassen sich dreierlei Arten von W. unterscheiden: 1) regelmäßige Wanderungen, bei welchen die Tiere innerhalb des Zeitraums eines Jahres in genau geregelter Weise periodisch ihren Aufenthaltsort zweimal wechseln, wobei die verschiedenen Wohnorte räumlich sehr weit auseinander liegen können, so daß sich die Wanderung vom einen zum andern über ausgedehnte Gebiete erstreckt; 2) außergewöhnliche Wanderungen, wobei die Tiere in meist ungeheurer Zahl ihren Wohnort gegen ihre sonstige Gewohnheit verlassen und in Gebiete einfallen, welche ihnen sonst fremd sind; in den wenigsten Fällen ist aber hiermit zugleich eine Änderung des Verbreitungsbezirks der betreffenden Tierart verbunden, indem entweder eine Rückwanderung in den ursprünglichen Wohnort erfolgt, oder die wandernden tierischen Scharen auf ihrem Zuge ihren Tod finden; 3) Wanderungen, mit welchen zugleich eine allmähliche Ausdehnung des Verbreitungsbezirks verbunden ist; sie vollziehen sich meist ziemlich unbeachtet und sind bemerkenswerter in ihren Endresultaten als in der Erscheinung der Wanderung selbst.

Die regelmäßigen Wanderungen haben ihre Ursache in der Abhängigkeit der Tiere von bestimmten klimatischen Verhältnissen sowie von ihrer Nahrung, oder sie hängen zusammen mit dem Fortpflanzungsgeschäft. Unter den Säugetieren finden sich periodische Wanderungen in größerm Maßstab nur beim Renntier in den arktischen Gebieten; im Frühjahr verlassen die Tiere in gewaltigen Herden ihren südlichsten Wohnort, den Wald, um in einem zwei Monate währenden Zuge zu ihren Weiden, den Steppen an der Küste des Eismeers, zu ziehen; im Herbst [974] erfolgt wie im Frühjahr jahraus jahrein auf denselben Wegen der Rückzug. Am großartigsten aber sind die regelmäßigen Wanderungen bei den Zugvögeln entwickelt, die auf bestimmtem, bei den einzelnen Gruppen aber verschiedenem Wege (Zugstraßen) mit dem Wechsel der Jahreszeiten über gewaltige Entfernungen hin in andre Gebiete, meist in andre Weltteile wandern. Die Richtung des Zuges ist vielfach bei einer und derselben Art im Frühjahr und Herbst eine verschiedene, ganz auffallend die Höhe derselben; so zieht nach Beobachtungen des über Helgoland führenden großartigen Vogelzugs beispielsweise der Sperber in einer Höhe von über 3000 m; ebenso bedeutend ist die Schnelligkeit. Auch in Bezug auf Geschlecht und Alter machen sich im Vogelzug Verschiedenheiten geltend; so wird der Herbstzug in Deutschland von jungen Vögeln eröffnet, während die alten erst nach zwei Monaten nachfolgen; im Frühjahr dagegen kommen zuerst die Männchen, dann die Weibchen und endlich die Jungen vom vorhergehenden Jahre. Auch unter den Reptilien und Amphibien finden sich Beispiele von regelmäßigen Wanderungen, so ziehen die Schildkröten des Amazonas zur Eiablage jährlich stets nach denselben Inseln, und in Dakota findet alljährlich zweimal eine Massenwanderung von Fröschen statt; im Herbst verlassen sie die zahlreichen kleinen Teiche und Wasserlachen in den Prärien, die im Winter bis zum Grunde ausfrieren, und ziehen sich in den Red River of the North zurück, in dessen mehrere Fuß tiefem Schlammgrund sie den Winter sicher verbringen, im Frühjahr suchen sie die Sommerquartiere wieder auf. Bei den Fischen hängen die regelmäßigen Wanderungen meist mit der Eiablage zusammen; viele Meeresfische wandern hierbei weit hinauf in Süßwasserläufe, so die Lachse, andre, wie die Aale, umgekehrt von den Flüssen hinab in das Meer. Auch im Meere selbst stellen die Fische zur Laichzeit Wanderungen an; so kommt beispielsweise an der französischen Mittelmeerküste der Hornhecht (Belone) zur Laichzeit vom Meere in die Lagunen, während umgekehrt die die Lagunen bewohnenden Mugiliden zur Laichzeit ins offene Meer hinausziehen, um nach Beendigung der Eiablage wieder zurückzukehren. Auch die regelmäßigen Heringszüge gehören hierher. Bei Meeresbewohnern finden aber nicht nur horizontale, sondern auch regelmäßige vertikale Wanderungen statt; fast sämtliche pelagische Tiere des Meeres sinken in regelmäßigen Zwischenräumen in die Tiefe und steigen wieder empor; bei sehr vielen wiederholen sich diese vertikalen Exkursionen zweimal im Laufe des Tages, indem die lichtempfindlichen Tiere bei Beginn des Tages in größere Tiefen einsinken und bei Beginn der Nacht wieder emporsteigen; andre pelagische Tiere aber werden durch die Erhitzung des Wassers an der Oberfläche veranlaßt, mit Beginn des Sommers in die kühlere Tiefe zu sinken, aus welcher sie im Herbste emporsteigen; dies gilt von Quallen, Würmern, Salpen etc. und in umgekehrter Reihenfolge auch von Fischen; so wandert der Thunfisch nicht, wie man früher glaubte, im Sommer vom Atlantischen Ozean in das Mittelmeer, sondern bleibt ständig im Mittelmeer, in welchem er je nach den Jahreszeiten vertikale Wanderungen in großen Scharen vereint ausführt.

Die außergewöhnlichen Wanderungen sind nicht in regelmäßig wiederkehrenden Ursachen der äußern Umgebung oder Perioden des Tierlebens begründet und verlaufen auch nicht, was Richtung des Zuges anbelangt, in der Regelmäßigkeit der periodisch wiederkehrenden Wanderungen, sondern in diesem Falle werden die Tiere durch ungewöhnliche Ereignisse, Überschwemmungen, Erdbeben, meist aber Hungersnot veranlaßt, in Scharen ihren Wohnort zu verlassen und weiterzuwandern. Von den Säugetieren wandern besonders Nager, so der Lemming und das Eichhörnchen. Unter den außergewöhnlichen Wanderungen der Vögel ist die bedeutendste aus der neuern Zeit die Invasion des Steppenhuhns (Syrrhaptes paradoxus) in Europa im J. 1888. Aus seiner Heimat, den asiatischen Steppen, zog es in westlicher Zugrichtung in ungeheuern Scharen nach Europa; durch die osteuropäischen und östlichen deutschen Gebirge wurde die Richtung etwas nach N. abgelenkt, so daß die Hauptmasse nördlich der Karpathen und Sudeten über die norddeutsche Tiefebene sich ausbreitete, daher Süddeutschland und auch die gebirgigen Teile Westdeutschlands verhältnismäßig nur schwach von der Einwanderung betroffen wurden; die Vögel überflogen auch den Kanal und gelangten bis auf die Orkney-Inseln. Trotz der großen Masse der eingewanderten Vögel und aller ihnen zu teil gewordenen Schonung haben sie sich nirgends in dem von ihnen überschwemmten Gebiet niedergelassen. In die Kategorie der unregelmäßigen Wanderungen gehören auch die mannigfachen Züge, die bei verschiedenen Insekten, so Heuschrecken, Libellen, zahlreichen Arten von Schmetterlingen, beobachtet sind. Auch Insektenlarven wandern, so die den Heerwurm bildende Larve der Trauermücke (Sciara militaris). Bei pflanzenfressenden Insekten, wie den Heuschrecken, ist der Grund des Wanderns die Suche nach Nahrung; schwieriger ist die Ursache dieser Wanderungen anzugeben bei Insekten, die von tierischer Nahrung leben, wie die Libellen, oder bei den fast keiner Nahrung bedürftigen Schmetterlingen. Wahrscheinlich handelt es sich in diesen Fällen, besonders wenn durch günstige Witterung zahlreiche Individuen der gleichen Art zur Entwickelung gelangt sind, um Aufsuchung neuer Futterpflanzen zur Eiablage in noch unverwüsteten Gebieten, wie sich dies bei den Zügen des Nonnenschmetterlings nachweisen läßt. In Zugrichtung und Geschwindigkeit verhalten sich die einzelnen Arten verschieden; die Züge wandernder Schmetterlinge können unglaubliche Dimensionen annehmen. So beobachtete v. Lendenfeld auf dem Gipfel des Mount Bogong in Australien einen stundenlang währenden, nach Millionen von Individuen zählenden Zug der Dorneule (Agrotis spina Gn.), von den Eingebornen Bogong genannt, woher auch der Häufigkeit des Schmetterlings wegen das ganze Gebirge den Namen hat, und in Surinam sind wochenlang andauernde Züge bestimmter Schmetterlinge beobachtet worden. Auch die Züge der Fische verdanken häufig der Suche nach Nahrung ihre Entstehung; so erscheinen häufig an der Küste von Venezuela gewaltige Fischzüge, die auf der Wanderung zu der an Nahrung reichern westlichen karibischen Strömung oft stranden; sie werden Rizabones oder, wenn die Fische durch Gaseruptionen getötet sind, Turbios genannt. Solche Fischwanderungen können, wenn infolge der regelmäßigen Winde ihre Nahrung, die pelagischen Organismen, zu bestimmten Jahreszeiten eine bestimmte Richtung einhält, auch den Charakter regelmäßiger Wanderungen erhalten. So folgen z. B. die Sardinenzüge, die an der Nordwestküste Frankreichs gefangen werden, den Abfällen des Stockfischfanges an den Küsten Neufundlands und den von diesen lebenden Krusterscharen, die von Wind und Strömung südwärts geführt werden.

Die dritte Kategorie von W. fällt zusammen mit [975] einer allmählichen Erweiterung der Wohnbezirke: die W. erstrecken sich nicht über weite Gebiete, noch erfolgen sie in Scharen, sondern indem zahlreiche Individuen einzeln oder paarweise ihren bisherigen Wohnort verlassen und sich in größerer oder geringerer Entfernung von diesem wieder niederlassen, wird der Verbreitungsbezirk einer Art immer mehr erweitert. Solches allmähliche Vorschieben in neue Wohnorte läßt sich besonders gut verfolgen, wenn in einem fremden Gebiet eingeführte Arten daselbst selbständig ihre Verbreitung ausdehnen. So hat sich der in den Oststaaten Nordamerikas eingeführte Sperling bereits so vermehrt, daß er zur Landplage geworden ist, und hat nun auch den Mississippi, der eine Zeitlang eine Barriere für seine Verbreitung zu bilden schien, überschritten und sich in Nebraska und Colorado angesiedelt. Bei seiner Wanderung westwärts scheint er den großen Eisenbahnen zu folgen. In ähnlicher Weise hat sich der nach Nordamerika eingeschleppte europäische Kohlweißling (Pieris rapae L.) daselbst verbreitet; es lassen sich vier Orte seiner Einschleppung nachweisen: Quebec (1860), New York (1868), Charleston (1873), Florida (1874). Die beiden erstgenannten Punkte gewannen die Bedeutung von Hauptverbreitungszentren, und ihre Gebiete vereinten sich bald. Die Verbreitung erfolgte zuerst hauptsächlich nach O. und SO., weniger rasch nach W.; sobald jedoch das Thal des Mississippi erreicht war, wurden in kurzer Zeit alle Oststaaten überschwemmt. Die rasche Erweiterung eines Verbreitungsbezirks durch fortgesetztes langsames Weiterwandern tritt dann besonders ein, wenn hiermit eine Nahrungsänderung des betreffenden Tieres verbunden ist. So wanderte der Coloradokäfer rasch von seiner ursprünglichen Heimat im Felsengebirge bis zur Küste des Atlantischen Ozeans, nachdem er seine bisherigen Futterpflanzen, wild wachsende Nachtschattengewächse, verlassen und auf die Kartoffel übergegangen war. In ähnlicher Weise hat sich ein im S. der Vereinigten Staaten von Nordamerika häufiger Schmetterling, Papilio cresphantes, weiter nach N. verbreitet, indem er die Orangen- und Zitronenbäume des Südens mit Rutaceen vertauschte.