Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Rousseau“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 10111015
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Rousseau. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 1011–1015. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Rousseau (Version vom 08.04.2023)

[1011] Rousseau (spr. russoh), 1) Jean Baptiste, franz. Dichter, geb. 6. April 1670 zu Paris als der Sohn eines Schuhmachers, der ihm eine sorgfältige Erziehung geben ließ, machte sich früh durch seine formvollendeten Poesien, besonders aber durch obscöne Epigramme einen Namen, ging 1697 als Sekretär des Marschalls v. Tallard nach England, fand dann in dem Finanzdirektor Rouillé einen eifrigen Gönner und genoß eines ausgezeichneten Rufs in der feinen Pariser Gesellschaft. Aber seine krankhafte Eitelkeit sowie seine unüberwindliche Neigung zu Spott und Satire führte bald seinen Sturz herbei; infolge äußerst giftiger anonymer Angriffe auf einige Personen, denen er die Schuld an dem Mißerfolg seiner von 1694 bis 1700 aufgeführten Komödien beimaß, wurde er 1712 aus Frankreich verbannt. Er ging zunächst nach der Schweiz zum französischen Botschafter Grafen du Luc, dann mit dem Prinzen Eugen nach Wien und ließ sich endlich in Brüssel nieder. Nach einem vergeblichen Versuch, seine Rückberufung zu erwirken, starb er 17. März 1741 in Brüssel. R., der noch im 18. Jahrh. für den ersten lyrischen Dichter galt, ist vom 19. Jahrh. ungebührlich herabgesetzt worden. [1012] Denn in allem, was die Form angeht, Harmonie, Reichtum des Rhythmus, Eleganz und Reinheit des Ausdrucks, leistete R. Vollendetes; aber die Gedanken sind fade, oft dunkel durch ein Übermaß mythologischer Anspielungen, zum Teil geradezu falsch. Seinen Oden fehlt der Schwung, seinen Psalmen das heilige Feuer, seinen Episteln die gleichmäßige, ruhige Stimmung, seinen Allegorien jede Wahrscheinlichkeit; Laharpe nennt sie zum Sterben langweilig. Seine Komödien und Operntexte sind teils nicht aufgeführt worden, teils verdientermaßen gefallen. Nur seine Epigramme, in welchen er seinem Herzen voll Gift und Galle Luft machen konnte, gehören in ihrer knappen Form und scharfen Pointierung zu den vorzüglichsten ihres Genres. Die letzte Ausgabe seiner Werke veranstaltete Amar (Par. 1820, 5 Bde.). Seine „Lettres sur différents sujets de littérature“ erschienen Lyon 1750, 3 Bde.; seine „Œuvres lyriques“, mit einem Kommentar, gab Manuel (Par. 1852), „Contes inédits“ Luzarche (Brüssel 1881) heraus.

2) Jean Jacques, berühmter franz. Schriftsteller und Philosoph, ward 28. Juni 1712 zu Genf geboren. Seine Mutter, die Tochter eines evangelischen Predigers, starb schon bei seiner Geburt, und der Vater, ein geschickter Uhrmacher, kümmerte sich nicht viel um die Erziehung seines Sohns, der in seiner Lesewut alle Bücher verschlang, deren er habhaft werden konnte, am liebsten aber die Romane des 17. Jahrh. und Plutarchs Lebensbeschreibungen las. Als sein Vater eines Ehrenhandels wegen aus Genf flüchten mußte, brachte man den zehnjährigen Knaben aufs Land zum Pastor Lambercier, wo sich sein tiefes Gefühl für die Herrlichkeit der Natur entwickelte, dann wieder nach Genf zu seinem Onkel Bernard, der ihn zuerst in das Büreau eines Anwalts, dann zu einem Kupferstecher in die Lehre brachte. Aber sein unsteter Sinn und harte Züchtigungen infolge seiner schlechten Streiche trieben ihn aus Genf; nach mehrtägigem Umherirren kam er nach Consignon zu dem katholischen Geistlichen, der ihn nach Annecy an Frau v. Warens empfahl. Diese, eine junge, liebenswürdige, aber äußerst schwache und gutmütige Frau, welche ihren Mann verlassen hatte, war kurz vorher zum Katholizismus übergetreten und bemühte sich, den 16jährigen R. ebenfalls zu bekehren; sie sandte ihn nach Turin in ein Bekehrungshaus, wo er bald darauf den Protestantismus abschwor. Diesen Schritt hatte er hauptsächlich gethan in der Hoffnung auf eine gute Versorgung, wie sie Frau v. Warens und andre Bekehrte vom König von Sardinien erhalten hatten; aber darin sah er sich gründlich getäuscht. Sich selbst überlassen, nahm er sein abenteuerndes Leben wieder auf, wurde Bedienter bei einer vornehmen Dame, von der er jedoch bald wieder entlassen wurde wegen des Verdachts, einen Diebstahl begangen zu haben, trat dann in den Dienst des Grafen von Gouvon, wo man nach Entdeckung seiner hervorragenden Befähigung bemüht war, für seine geistige Weiterbildung zu sorgen, entlief aber auch hier wieder aus Liebe zum Vagabundenleben und kehrte endlich nach langen Irrfahrten 1730 zu Frau v. Warens zurück. Als auch der Versuch, ihn zum Geistlichen heranzubilden, mißlang, versuchte er es mit der Musik, gab Musikstunden, schloß sich einem Industrieritter an, gelangte nach vielen thörichten Streichen und seltsamen Abenteuern bis nach Paris, kehrte dann aber wieder zu Frau v. Warens zurück, die inzwischen nach Chambéry verzogen war. Nach einem vergeblichen Versuch, sich als Schreiber und Musiklehrer sein Brot selbst zu erwerben, zog er zu seiner Freundin, die seine Geliebte geworden war, auf das Landgut Les Charmettes und verlebte dort acht glückliche Jahre, schwelgend im Genuß der schönen Natur, hauptsächlich aber mit ernsten Studien beschäftigt. Hier las er die englischen, deutschen und französischen Philosophen, studierte Mathematik und Latein, vertiefte seine religiösen Anschauungen und versuchte sich in Lustspielen und Opern. Da aber seine Gesundheit durch übermäßige Anstrengungen und die Sorgen um die zerrütteten Vermögensverhältnisse seiner Freundin untergraben war, reiste er auf zwei Monate ins Bad nach Montpellier; als er dann nach seiner Rückkehr bei Frau v. Warens einen andern Liebhaber findet und mit diesem ihre Gunst nicht teilen will, wie sie es ihm vorschlägt, verläßt er ihr Haus, geht als Hauslehrer nach Lyon und 1741 nach Paris, um sein neues System, Noten durch Zahlen auszudrücken, der Akademie zu unterbreiten. Als diese seine Entdeckung zurückwies und überdies eine Krankheit seine Sorgen um die Existenz bedeutend vermehrte, nahm R. die Stelle eines Sekretärs beim französischen Gesandten zu Venedig, dem Grafen Montaigu, an, einem geizigen, brutalen Mann, bei dem er nur 18 Monate aushielt. Obwohl aber auch seine Oper „Les Muses galantes“ fast vollständig durchfiel, so wurde er doch allmählich bekannt; er trat in lebhaften Verkehr mit Diderot, Grimm, d’Alembert, Holbach, Frau v. Epinay u. a., und schon damals rühmte man seine geistvolle Unterhaltung und spottete über sein unbeholfenes Benehmen und seine maßlose Eitelkeit. In dieser Zeit knüpfte er auch sein Verhältnis mit Thérèse Levasseur, einer Arbeiterin ohne jede Schulbildung und so beschränkt, daß sie weder die Monatsnamen erlernen, noch den Wert der einzelnen Geldmünzen behalten konnte. Trotzdem lebten beide glücklich in einer Vereinigung, deren festester Kitt die Macht der Gewohnheit war, und die erst 25 Jahre später durch die Ehe geheiligt wurde; ja, R. nahm sogar die zänkische und habsüchtige Mutter und den kranken Vater der Therese mit in den Kauf. Sie schenkte ihm fünf Kinder, die er alle ins Findelhaus brachte, eine Herzlosigkeit, die er mit vielen Sophistereien zu entschuldigen versuchte. Eine Sekretärstelle, welche er damals bei Madame Dupin und deren Schwiegersohn bekleidete, gab er bald auf für eine Anstellung als Kassierer beim Generalpachter Dupin; inzwischen aber war er mit Einem Schlag ein berühmter Mann geworden. Seine Abhandlung über die Verderblichkeit der Bildung („Discours sur les arts et les sciences“, 1750), eine Antwort auf eine von der Akademie zu Dijon gestellte Preisfrage, war von dieser mit dem Preis ausgezeichnet worden. Von nun an trat er in bewußten Gegensatz zu der Zivilisation, die er für alle menschlichen Laster und besonders für seine eignen Verirrungen verantwortlich machte. Er verschmähte es jetzt auch, von der Schriftstellerei zu leben, und empfahl sich trotz des heftigen Widerspruchs seiner Geliebten und ihrer Mutter als Notenabschreiber in der sichern Erwartung, daß es einem berühmten Mann an Aufträgen nicht fehlen würde. Er täuschte sich auch nicht, denn schon um ihre Neugier zu befriedigen, kamen viele; immerhin aber war es eine höchst unwürdige Rolle, zu der ihn sein ungemessener Stolz und seine Menschenverachtung vermochten. Die Gegenvorstellungen seiner Freunde machten die Sache nur noch schlimmer; er begegnete ihnen mit dem größten Mißtrauen und witterte fortan überall Feindschaft und Verrat. Auch auf dem Theater errang er nun einen glänzenden Erfolg mit der Oper „Le devin du village“ (1752); dagegen fiel sein Lustspiel „Narcisse, [1013] ou l’amant de lui-même“ (1753) vollständig durch. In demselben Jahr erschien seine „Lettre sur la musique française“, mit welcher er durch seine Parteinahme für die italienische Musik einen heftigen Sturm gegen sich erregte. Seine zweite größere Schrift war wiederum von der Akademie zu Dijon angeregt und handelte von dem Ursprung und den Gründen der Ungleichheit unter den Menschen („Discours sur l’inégalité parmi les hommes“, 1754); auch diese Schrift enthält die heftigsten Anklagen gegen die Gesellschaft. In dieser Zeit machte er eine Reise nach Genf, wo er glänzend empfangen wurde und zum Calvinismus zurücktrat; er nannte sich von nun an mit Vorliebe „Citoyen de Genève“. Nach seiner Rückkehr nach Paris schrieb er die „Lettre à d’Alembert contre les spectacles“ (1758) und trat in eine heftige Polemik mit Voltaire ein, die bald in die bitterste Feindschaft ausartete. Seit 1756 bewohnte er auf eine Einladung der Frau v. Epinay ein Gartenhäuschen im Wald von Montmorency, die berühmte, später umgebaute „Eremitage“. Hier, in der Einsamkeit, inmitten einer herrlichen Natur, hoffte er ein glückliches und ruhiges Leben führen zu können; aber seine häusliche Misere, seine heftige, sinnliche Leidenschaft für die Gräfin d’Houdetot und besonders sein krankhaftes Mißtrauen und seine nervöse Reizbarkeit, die den Bruch mit seinen besten Freunden, Grimm, Diderot und Frau v. Epinay, herbeiführte, machte den Aufenthalt in der Eremitage unmöglich; er bezog eine Gartenwohnung zu Mont Louis in der Nähe von Montmorency. Hier lebte er auf einem Lustschloß, welches ihm der Herzog von Luxembourg zur Verfügung stellte, von 1757 bis 1762, und wenn auch sein Gemüt nicht gesundete, so sind hier doch seine berühmtesten Werke vollendet worden: „Julie, ou la Nouvelle Héloïse“ (1760), „Du Contrat social, ou Principes du droit politique“ (1762) und „Émile, ou de l’Éducation“ (1762). Aber auch er teilte das Geschick aller Propheten. Aus Frankreich verbannt, wo das Parlament die Verbrennung des „Émile“ und die Verhaftung des Verfassers dekretiert hatte, in seiner Vaterstadt, wo man seine Schriften öffentlich verbrannt hatte, geächtet, mußte er in dem damals preußischen Neuchâtel, im Dorf Moitiers-Travers, eine Zuflucht suchen; günstig nahm ihn der Gouverneur des Ländchens, der Marschall Georg Keith, auf. Von hier schrieb er seine Streitschrift an den Erzbischof von Paris und die berühmten „Lettres de la montagne“, worin er die Glaubensfreiheit gegen Kirche und Polizei in Schutz nahm. Doch die Intrigen seiner Feinde ließen ihn auch hier nicht ruhen. Auf Anstiften des protestantischen Geistlichen machten die fanatisierten Bauern einen Angriff auf sein Haus und vertrieben ihn aus ihrem Dorf (Sommer 1765). Auch von der Petersinsel im Bieler See, wohin er sich geflüchtet, wurde er verjagt; schon wollte er sich auf die Einladung Friedrichs II. nach Berlin begeben, als er den dringenden Bitten Humes, nach England überzusiedeln, nachgab. Aber auch dort war seines Bleibens nicht lange; sein Menschenhaß, der durch die Leiden der letzten Jahre allmählich in Verfolgungswahnsinn ausgeartet war, vielleicht auch einige Rücksichtslosigkeiten seines Gastgebers, besonders aber wohl der Anstoß, den die englische Gesellschaft an seinem Verhältnis zu Therese nahm, führte bald den Bruch herbei. Schon 1. Mai 1767 landete er in Frankreich, erhielt 1770 die Erlaubnis, nach Paris zurückzukehren, wo er in der Rue Plâtrière (die jetzt seinen Namen trägt) eine Wohnung bezog, und vollendete dort die schon in England begonnenen „Confessions“ (deutsch von L. Schücking, Hildburgh. 1870), worin er mit einer oft empörenden Offenheit und Rücksichtslosigkeit gegen sich und andre sein ganzes Leben der Welt darlegte. In langer armenischer Kleidung wandelte er damals melancholisch unter den Parisern umher, trieb Musik und Botanik und nährte sich vom Notenschreiben, bis er im Mai 1778 vom Marquis v. Girardin die Einladung erhielt, in Ermenonville, unweit Paris, ein stilles Landhaus zu beziehen. Hier starb er plötzlich 2. Juli d. J., wie einige vermuten, eines freiwilligen Todes. 1794 wurden seine Gebeine (von Ermenonville) feierlich im Panthéon beigesetzt, von wo sie unter der Restauration heimlich wieder entfernt sein sollen; seine Landsleute aber errichteten auf der nach ihm benannten Rousseauinsel in Genf ihrem größten Bürger ein Denkmal. Außer den angeführten Werken schrieb R.: „De l’imitation théâtrale“ (1764); das Melodrama „Pygmalion“, welches Berquin in Verse brachte; die Abhandlung über die „Vertu la plus nécessaire aux héros“ (1769); ein „Dictionnaire de musique“ (1767); „Lettres sur la botanique“; „Dialogues“, Briefe etc. Mehrere Schriften wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht, wie „Le Lévite d’Ephraïm“; „Émile et Sophie, ou les Solitaires“, eine schwächliche Fortsetzung des „Émile“; die „Considérations sur le gouvernement de Pologne“ und endlich die „Confessions“, die vervollständigt wurden durch eine Art Tagebuch: „Les rêveries du promeneur solitaire“, die gegen seinen ausdrücklichen Wunsch schon drei Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurden.

Mehr als Voltaire bestimmte R. die geistige Physiognomie des alternden 18. Jahrh. Aufgewachsen in einer Stadt, die durch harte Kämpfe gegen Gewalt und Übermut frei und groß geworden, in welcher strenge calvinistische Zucht wahre und tiefe Frömmigkeit nicht ausschloß, mit einem Herzen voll glühender Liebe zur Natur, deren Großartigkeit und Lieblichkeit in ihm einen begeisterten Lobredner fand, trefflich gewappnet mit dem geistigen Rüstzeug des philosophischen Jahrhunderts, ein scharfer Denker, von der feurigsten Beredsamkeit, daneben von einer Betonung des eignen Ichs, von einer Selbstsucht und Überhebung, die in ihrer Übertreibung geradezu widerwärtig wirken: unternimmt er es, die moralischen und politischen Verhältnisse umzuformen, indem er den glänzenden Schleier, welcher die Fäulnis und das Elend des sozialen Lebens verhüllte, mit kühner Faust zerriß und vollständige Umkehr predigte, die Rückkehr zur natürlichen Empfindung und zur reinen Bürgertugend. Seine Hauptwerke geben uns ein anschauliches Bild seines Systems. Wenn er in der Abhandlung über die Verderblichkeit der Bildung nachwies, daß mit dem Fortschreiten der Kultur der Verfall der Sitten Hand in Hand gegangen sei, daß Irrtum und Vorurteil unter dem Namen Philosophie die Stimme der Vernunft und der Natur erstickt hätten, so zeichnet er im „Émile“ das Ideal eines Bürgers und die Mittel, das Kind zu einem solchen zu erziehen. Fern von der Welt und dem verderblichen Einfluß der Gesellschaft soll die Seele des Kindes sich bilden; da der Mensch von Natur gut ist, so braucht nur Irrtum und Laster fern gehalten zu werden; dann wird der Knabe lernen, natürlich und richtig zu fühlen und zu denken, ohne daß Vorurteil und konventionelle Begriffe die Klarheit seiner Anschauungen beeinträchtigen; dann wird er von selbst Wissenschaft und Kunst und zuletzt auch Gott finden lernen. Den Glanzpunkt des „Émile“ aber bildet das Glaubensbekenntnis [1014] des savoyischen Vikars; hier bekennt R. in herrlicher Sprache das tiefe Bedürfnis eines wahren, natürlichen Gefühls nach Religion, nach dem Gotte, dessen Allmacht und Größe seine Werke jeden Tag aufs neue verkünden. Der ungeheure Einfluß, den dieses Buch, das Naturevangelium der Erziehung, wie es Goethe nennt, auf die Zeitgenossen ausübte, ging weit über Frankreichs Grenzen hinaus; Pestalozzi sucht und findet seinen Ruhm in der praktischen Durchführung von Rousseaus Ideen, ohne indes seinen Maßlosigkeiten und Absonderlichkeiten zu folgen. Wie diese beiden Schriften der Afterbildung der Zeit das Ideal wahrer Bildung gegenüberstellen, so versuchen die „Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen“ und der „Gesellschaftsvertrag“ die soziale Frage zu lösen. Das erstere Werk unterzieht die bestehenden sozialen Verhältnisse einer vernichtenden Kritik. Weil die Zivilisation den Menschen unglücklich mache, so müsse man zu einem Naturzustand zurückkehren, der dem der Wilden, ja dem der Tiere möglichst gleichkomme. Aus dem Begriff des Eigentums habe sich die Ungleichheit entwickelt, aus der Vereinigung zu gegenseitigem Schutz die Regierung, aus der Erblichkeit der Regierung der Despotismus und die Entartung. Aber ein Despot sei nur so lange Herr, als er die Macht habe, und die Revolution, welche einen Herrscher vernichte, sei ebenso gerechtfertigt wie das Schalten und Walten des Herrschers über Leben und Eigentum seiner Unterthanen. Diesen leidenschaftlichen, oft unrichtigen und meist übertriebenen Deduktionen gegenüber entwickelt er im „Contrat social“ die Grundsätze seines politischen Systems. Die ersten Worte: „Der Mensch ist frei geboren“, bilden den Grundtext des ganzen Buches. Seine Freiheit gibt der Mensch nicht auf, wenn er eine Gesellschaft, einen Staat bildet; darum ist die Gesellschaft allein der Souverän, der Gesamtwille das höchste Gesetz. Der Zweck aber der Gesetze ist Freiheit und Gleichheit. Das Merkwürdigste ist, daß er seiner Republik eine Staatsreligion verleiht, und daß er Andersgläubige verbannt, Abtrünnige mit dem Tod bestraft wissen will. Wie diese Theorien sich in der Praxis ausnehmen, zeigten der Konvent und Robespierre; ein viel höherer Grad von Tyrannei war die notwendige Konsequenz solcher Lehren. Der „Contrat social“ hatte einen großartigen Erfolg: der französischen Revolution diente er als Grundbuch; Polen und Corsen stellten an R. die Anforderung, ihnen Verfassungen zu geben. Aber das Geheimnis dieses Erfolgs liegt nicht bloß in der Kühnheit der Ideen, sondern vor allem in der vollendeten Form, dem prophetischen Ton, der Sicherheit seiner Logik, der Heftigkeit seiner Angriffe. Nicht geringen Widerhall in den Herzen der Jugend, besonders auch der deutschen, fand die „Neue Heloise“. Hier zeigt er sich als wahrer Dichter, nicht bloß in den Naturschilderungen, die, wie diejenigen der „Confessions“, von bestrickendem Zauber sind, sondern hauptsächlich in der Darstellung einer tiefen, echten Liebe, der zartesten Empfindung und der glutvollsten Leidenschaft. Juliens Fehltritt aber ist nicht nur unmoralisch, sondern stört auch die Harmonie des Werkes, und wenig gelungen ist die moralisierende Fortsetzung des Romans. – So sprach R. es aus, was aller Herzen bewegte, machte sich zum Anwalt des geknechteten, hungernden Volkes gegenüber dem Häuflein, dem die Geburt bestimmte, in Überfluß zu schwelgen, verteidigte kühn die Rechte des gesunden, natürlichen Gefühls gegen den kalten, zersetzenden Verstand des philosophischen Jahrhunderts, verkündete begeistert die Größe Gottes gegenüber dem flachen Materialismus der Encyklopädisten und zwar mit einer Siegesgewißheit, daß er alles mit sich fortriß. Nicht bloß der französischen Revolution, auch der Sturm- und Drangperiode der deutschen Dichtung war er der geistige Führer. Und wenig schadete es, daß er fast überall durch Übertreibungen, Trugschlüsse und Widersprüche seine Resultate kompromittiert hat: alle Bedenken schwanden vor der elementaren Gewalt seiner Offenbarungen.

Unter den zahlreichen Gesamtausgaben der Werke Rousseaus heben wir hervor: die von Du Peyron besorgte (Genf u. Par. 1782, 35 Bde.), mit den „Œuvres posthumes“ (1782–83, 12 Bde.); die von Villenave und Depping (1817, 8 Bde.); von Musset-Pathay, mit Biographie und Anmerkungen (1823–1826, 23 Bde.); von Hachette (1865, 13 Bde.). Von deutschen Übersetzungen nennen wir die von Cramer (Berl. 1786–99, 11 Bde.) und die von Ellissen, G. Julius, K. Große, Marx etc. (Leipz. 1843–45, 10 Bde.). Einen Band „Lettres inédites“ gab Bosscha (Amsterd. 1858) heraus, einen andern Streckeisen-Moulton (1861, dann in „R., ses amis et ses ennemis“, 1865, 2 Bde.); „Fragments inédits“ veröffentlichte Jansen (Berl. 1882). Eine Sammlung der Lieder und Romanzen Rousseaus erschien unter dem Titel: „Les consolations des misères de ma vie“ (1781). Eine gute Biographie Rousseaus fehlt. Die interessantesten Studien über ihn schrieb Saint-Marc Girardin in der „Revue des Deux Mondes“ 1852–56 (von Bersot herausgegeben: „J. J. R., sa vie et ses ouvrages“, 1875, 2 Bde.). Vgl. außerdem die Biographien von Morin (Par. 1851), Brockerhoff (Leipz. 1863–74, 3 Bde.), Th. Vogt (Wien 1870), John Morley (2. Aufl., Lond. 1886), Gehrig (2. Aufl., Neuwied 1889); ferner E. Schmidt, Richardson, R. u. Goethe (Jena 1875); Desnoiresterres, Voltaire et R. (Par. 1874); Moreau, J. J. R. et le siècle philosophe (das. 1870); Ritter, La famille de R. (Genf 1878); Borgeaud, Rousseaus Religionsphilosophie (Leipz. 1883); Jansen, R. als Musiker (Berl. 1884); Derselbe, R. als Botaniker (das. 1885).

3) Philippe, franz. Maler, geb. 1808 zu Paris, erlernte die Malerei unter Gros und Victor Bertin, widmete sich anfangs der Landschaft und trat 1831 mit einer Partie aus der Auvergne auf, der dann andre Landschaften aus der Normandie folgten, bis er um 1840 zum Tiergenre überging, wobei er die Tierwelt oft in komische Beziehung zum Stillleben brachte. Seine Hauptwerke dieser Gattung sind: die Katze und die alte Ratte, der Maulwurf und das Kaninchen (1846), Früchte und Wildbret (1848), der Zudringliche (1850, im Luxembourg), die einsame Ratte (1851), ein Storch, der Siesta hält (1855), der Affe als Photograph (1866). Später widmete er sich ganz dem Stillleben, in welchem er eine koloristische Gewandtheit erreichte, die sowohl Kunstgegenstände, Kleinodien u. dgl. als auch Früchte, Geräte etc. mit höchster Vollendung wiedergab. Er starb 5. Dez. 1887 in Paris.

4) Théodore, franz. Maler, Bruder des vorigen, geb. 15. April 1812 zu Paris, Schüler von Rémond und Guillon-Lethière, bildete sich aber mehr durch Studien nach der Natur und den niederländischen Landschafts- und Tiermalern und durch Reisen nach der Auvergne und der Normandie zu einem Maler aus, welcher das Hauptgewicht auf die Stimmung legte und der französischen Landschaftsmalerei eine neue, noch heute herrschende Richtung gab. Er begründete die Gattung der Paysage intime, welche die Motive zu ihren Bildern vornehmlich dem Wald von Fontainebleau entlehnt. [1015] Seit 1848 hatte R. seinen Wohnsitz am Rande dieses Waldes zu Barbizon, wo er 22. Dez. 1867 starb. In der koloristischen Behandlung oft flüchtig und skizzenhaft, in der letzten Zeit dagegen zu detailliert und deshalb minder frisch, üben seine Landschaften doch stets einen tiefen poetischen Reiz. Seine Hauptwerke sind: Ansicht des Beckens von Paris und des Seinelaufs, Thal von Bas-Meudon und die Insel Séguin, Hochwald von Compiègne (1833), Abstieg von Kühen im obern Jura (1835), die Lache, Avenue de l’Isle-Adam, die Waldlisiere, Ausgang aus dem Wald von Fontainebleau (1852) und Sumpf in den Landes (1854, beide im Louvre zu Paris). Er erhielt 1867 die Ehrenmedaille der Pariser Weltausstellung. Vgl. Sensier, Souvenirs de Th. R. (Par. 1872).