MKL1888:Rechtswissenschaft

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Rechtswissenschaft“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 631633
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Rechtswissenschaft. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 631–633. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Rechtswissenschaft (Version vom 20.01.2022)

[631] Rechtswissenschaft (Rechtsgelehrsamkeit, Jurisprudenz), im subjektiven Sinn die wissenschaftliche Erkenntnis und Kenntnis der Rechtssatzungen, im objektiven Sinn ihre wissenschaftliche Bearbeitung und Darstellung. Es ist die hauptsächlichste Aufgabe des Rechtsgelehrten, die Normen des geltenden Rechts kennen zu lernen und wissenschaftlich festzustellen, welche Rechtssätze die Lebensverhältnisse der Menschen normieren, und insofern hat die R. einen vorwiegend praktischen Charakter. Wer sich namentlich dem praktischen Dienste der Rechtspflege widmet, was ja von dem größten Teil der Juristen gilt, hat sich vornehmlich die Kenntnis derjenigen Rechtssatzungen anzueignen, welche in dem Staate, dem er angehört, positive Geltung beanspruchen und bei der Entscheidung einzelner Rechtsfälle zur Anwendung zu bringen sind. Jedoch durch eine wissenschaftliche Darstellung der Normen des geltenden Rechts allein (Dogmatik des Rechts) und durch eine wissenschaftliche Gliederung und Abgrenzung der einzelnen Gebiete desselben (Systematik des Rechts) wird der Gegenstand der R. keineswegs erschöpft. Denn alles positive Recht, wie es sich in den Gesetzbüchern eines Volkes und in seinen Rechtsgewohnheiten darstellt, ist historischen Ursprungs; nur aus der Vergangenheit aber können wir die Gegenwart recht erkennen und ebendarum Zweck und Bedeutung und überhaupt den Sinn einer Rechtsnorm nur dann richtig erfassen, wenn wir auf ihre historische Entstehung und Entwickelung zurückgehen. Wie daher die Rechtsgeschichte ein wichtiger Teil der Volks- und Kulturgeschichte überhaupt ist, so erscheint sie auch als integrierender und wesentlicher Teil der R., und zwar pflegt man hierbei zwischen äußerer und innerer Rechtsgeschichte zu unterscheiden, indem man unter ersterer die chronologische Aufzählung der Rechtsquellen eines Volkes, seiner Gesetze und Rechtsbücher und die Geschichte derselben versteht, während sich die innere Rechtsgeschichte mit der historischen Entwickelung der einzelnen Rechtsinstitute zu beschäftigen hat. Sieht man aber von dem Recht, welches historischen Ursprungs ist, ab, also von dem Recht, welches als der Ausdruck des Staatswillens erscheint und ebendarum den Einzelwillen bindet, so ist es der Vernunftthätigkeit des Einzelnen unbenommen, sich ein eignes Rechtssystem zu konstruieren oder doch darüber nachzudenken und philosophische Erörterungen darüber anzustellen, wie das geltende Recht weiter auszubilden und wie es mit den menschlichen Lebensverhältnissen, aber auch mit der Rechtsidee selbst mehr und mehr in Einklang zu bringen sei. Diese Geistesthätigkeit wird Rechtsphilosophie, ihr Resultat Natur- oder Vernunftrecht (s. d.) genannt. Indem sie sich mit einem der höchsten Zwecke der Menschheit überhaupt beschäftigt, bildet die Rechtsphilosophie einen wichtigen Teil der allgemeinen Philosophie, und gleichwohl ist sie doch auch von praktischem Wert für die R. Denn sie eröffnet dem Rechtsgelehrten den philosophischen Sinn; sie verleiht ihm jene Unbefangenheit und Klarheit, welche für die Prüfung der positiven Rechtsnormen erforderlich ist; sie ermöglicht das Eindringen in den Geist des Rechts und in die logischen Grundlagen der bestehenden Rechtsordnung, fördert eine selbständige Prüfung ihrer Zweckmäßigkeit, ein Aufdecken ihrer Mängel und eine wissenschaftliche Vorbereitung ihrer Fortentwickelung, und ebendarum soll in der R. die philosophische Lehr- und Lernmethode mit der historischen Hand in Hand gehen. Freilich kann das Produkt rechtsphilosophischer Thätigkeit allgemeine Geltung nicht beanspruchen, [632] und hierin liegt der Hauptunterschied des philosophischen und positiven Rechts, und ebensowenig kann die R., wie manche meinen, aus dem bestehenden positiven Recht ganz neue Rechtssätze ableiten, neues Recht schaffen. Es gibt kein eigentliche Recht der Wissenschaft. Die R. beschränkt sich vielmehr auf die wissenschaftliche Darstellung des gegebenen Rechts, auf die Auslegung desselben, auf die analoge Ausdehnung der gegebenen Rechtsnormen auf ähnliche Fälle im Sinn des Gesetzgebers und auf die Entwickelung der leitenden Prinzipien, welche den einzelnen Gesetzesbestimmungen zu Grunde liegen. Die einzelnen Teile der R. entsprechen den einzelnen Teilen des Rechts selbst (s. Recht).

Was die rechtswissenschaftliche Litteratur anbetrifft, so sind die schriftlichen Geisteserzeugnisse der einzelnen Völker auf diesem Gebiet teils exegetische, d. h. der Auslegung vorhandener Rechtsquellen, teils dogmatische, d. h. der systematischen Darlegung von geltenden Rechtsgrundsätzen gewidmet. Dazu kommt die philosophische Rechtslitteratur, die sich mit der wissenschaftlichen Feststellung der allgemeinen Rechtsbegriffe beschäftigt, und neben dem rechtshistorischen das rechtspolitische Gebiet mit seinen der künftigen Gesetzgebung vorarbeitenden litterarischen Leistungen. Auch die praktische R., welche unmittelbar die Handhabung, Anwendung und Anwendbarkeit von geltenden Rechtsnormen in dem Rechtsleben eines Volkes unterstützen und vermitteln will, hat eine große Litteratur, und zahllose populärwissenschaftliche Arbeiten sollen der Hebung des Rechtsbewußtseins und der Verbreitung der Rechtskunde im Volk dienen; ein verhältnismäßig neuer Zweig der rechtswissenschaftlichen Litteratur, den erst das moderne Staats- und Rechtsleben zur vollen Entfaltung brachte. Denn Jahrhunderte hindurch, nachdem das römische Weltreich längst in Trümmer gegangen, erhielt sich die Weltherrschaft des römischen Rechts (s. d.). Nur allmählich entwickelte sich bei den einzelnen Völkerschaften ein nationales Recht und eine nationale R., deren Erzeugnisse nicht bloß den juristischen Fachgelehrten zugänglich sind. Zudem zieht der moderne Staat seine Bürger zu der Gesetzgebung wie zu der Rechtsprechung unmittelbar heran, und beide bilden einen wichtigen Teil unsers öffentlichen Lebens überhaupt. Die Entwickelung des konstitutionellen Verfassungslebens, die volkstümliche Gestaltung der öffentlichen Rechtspflege und die staatliche Zusammenfassung der verschiedenen Rechtsgebiete in dem neuen Reich unter einer einheitlichen Gesetzgebung mußten namentlich für die Entwickelung der deutschen R. von der größten Bedeutung sein (s. Deutsches Recht). Seine wissenschaftliche Bedeutung wird das römische Recht gleichwohl für alle Zeiten behaupten, wie es denn auch Jahrhunderte hindurch nicht nur die gesamte R. beherrscht, sondern auch als wirklich geltendes Recht bis in die neueste Zeit Gesetzeskraft gehabt hat, wenn sich auch das Geltungsgebiet der römisch-rechtlichen Grundsätze immer mehr verengerte und diese selbst mit der fortschreitenden Entwickelung der modernen Gesetzgebung mehr und mehr außer Geltung kamen. Schon aus dem 13. Jahrh. datiert die Wiederbelebung der romanistischen R. durch die italienischen Rechtsgelehrten des Mittelalters. Die Glossatorenschule von Bologna sichtete das gewaltige Material und verpflanzte das Studium der Justinianischen Rechtsbücher nach Frankreich und Deutschland, während die sogen. Postglossatoren, d. h. die italienischen Rechtsgelehrten bis zum 16. Jahrh., wie Bartolus und Baldus, bereits an eine schulmäßige Gestaltung der juristischen Begriffe herangingen. Im 16. und 17. Jahrh. aber fiel die wissenschaftliche Bearbeitung des römischen Rechts vornehmlich den französischen Juristen, dem berühmten Cujacius u. a., zu, welchen sich die spanischen und holländischen Rechtsgelehrten jener Zeit anschlossen. Die rationalistische Richtung des 18. Jahrh. machte sich auch auf dem Gebiet der R. geltend. Rousseau und Montesquieu bahnten die Befreiung von der Herrschaft des römischen Rechts an, wenn sie auch in der absoluten Verneinung des rechtshistorischen Moments zu weit gingen. Gegen diese Bestrebungen wandte sich nun besonders die deutsche historische Schule, deren eigentlicher Begründer zu Ende des 18. Jahrh. Hugo in Göttingen, während ihr Hauptvertreter Savigny in Berlin war (Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, System des heutigen römischen Rechts). Schömann, Haubold, Kramer, Göschen, Unterholzner, Heimbach, Löhr, Schrader und von den Neuern Vangerow in Heidelberg (gest. 1870) waren Angehörige dieser historischen Schule, die freilich auch nicht frei von Einseitigkeit blieb. So erwuchs ihr denn in der rechtsphilosophischen Schule eine beachtenswerte Gegnerschaft mit dem berühmten Pandektisten Thibaut in Heidelberg an der Spitze, bis dann die neuere Zeit zu der richtigen Erkenntnis kam, daß beide, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie (s. Vernunftrecht), nur Hilfsmittel der R. sind, während diese selbst die Aufgabe hat, auf jenen Grundlagen ein den Lebens- und Rechtsverhältnissen der Völker jeweilig entsprechendes Rechtssystem aufzubauen. In diesem Sinn sind die Lehrbücher des heutigen römischen[WS 1] Rechts und die sonstigen zivilistischen Schriften von Arndts, Brinz, Holzschuher, Keller, Puchta, Seuffert, Sintenis, Baron, Wächter und Windscheid sowie das berühmte Werk von Jhering: „Der Geist des römischen Rechts“ geschrieben. Die Belebung der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft hatte aber auch zu einem Studium der deutsch-rechtlichen Quellen angeregt. Letztere sind nämlich immerhin für die nationale Rechtsentwickelung von großer Wichtigkeit gewesen, wenn auch das römische Recht in Deutschland zu einer Zeit eindrang, als das deutsche Recht sich noch im Stadium der Kindheit befand und die rechtswissenschaftlichen Arbeiten jener Zeit (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel und die sonstigen mittelalterlichen Rechtsbücher) sich mit der römisch-rechtlichen Litteratur in konsequenter Aus- und Durchbildung des Rechtsstoffes durchaus nicht messen konnten. Die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte von Karl Friedrich Eichhorn (gest. 1854) war in dieser Hinsicht epochemachend. Zöpfl, Walther, Hillebrand, Schulte und vor allen Jakob Grimm machten die deutschen Rechtsaltertümer in ihren Schriften dem allgemeinen Rechtsstudium zugänglich, und eine Reihe von dogmatischen Darstellungen des deutsch-nationalen Privatrechts von Gerber, Beseler, Bluntschli, Stobbe, Reyscher, Roth u. a. folgte. Namentlich war es aber das Handels- und Wechselrecht, welches nunmehr wie bei den meisten europäischen Völkerschaften, so auch in Deutschland wissenschaftlich bearbeitet wurde und hier inmitten der Zerrissenheit der deutschen Rechtszustände auch eine einheitliche gesetzgeberische Behandlung fand (s. Handelsrecht). Den großen Kodifikationen partikularen deutschen Rechts, wie dem preußischen Landrecht Friedrichs d. Gr. und dem österreichischen bürgerlichen Gesetzbuch (1811), traten die Gesetzbücher Napoleons I. an die Seite, welche nicht nur das Privatrecht, sondern auch das Straf- und Prozeßrecht normierten. Das Napoleonische Handelsgesetzbuch [633] (Code de commerce) insbesondere war das Vorbild der meisten neuern Handelsgesetzbücher, und der Code pénal (Strafgesetzbuch) beeinflußte auch die deutsche Strafgesetzgebung in erheblicher Weise. Durch Kant und Hegel wurde das wissenschaftliche Studium des Strafrechts (s. d.) mächtig angeregt, und die ausgezeichneten Arbeiten des großen Kriminalisten Feuerbach gaben der Strafrechtswissenschaft einen gewaltigen Aufschwung, der zuerst in dem von Feuerbach selbst redigierten bayrischen Strafgesetzbuch von 1813 praktische Bedeutung gewann. Zahlreiche Strafgesetzbücher der einzelnen deutschen Staaten folgten, während gleichzeitig auf dem Gebiet des Strafprozesses (s. d.) das englische Vorbild vielfache Nachahmung in dem öffentlichen und mündlichen Verfahren und in der Heranziehung des Laienelements im Schwurgerichtsprozeß fand. Jetzt ist nicht nur auf dem Gebiet des Strafprozesses, sondern auch auf dem des Zivilprozesses (s. d.) in Deutschland die Rechtseinheit hergestellt, wie dies schon zuvor in Ansehung des Strafrechts durch den Erlaß des norddeutschen, jetzt deutschen Strafgesetzbuchs geschehen war. Ein deutsches bürgerliches Gesetzbuch ist in der Vorbereitung begriffen, und das einheitliche Reichsrecht hat bereits eine reichhaltige Litteratur hervorgerufen, welche durch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des gemeinsamen Reichsgerichts wesentlich gefördert worden ist. Auf dem Gebiet des Staatsrechts (s. d.) sind namentlich die englischen Rechtsschriftsteller von großem Einfluß gewesen, und das konstitutionelle Verfassungsleben des Kontinents hat durch dieselben vielfache Anregung erhalten. Das deutsche Reichsstaatsrecht der Gegenwart hat bereits viele Bearbeiter gefunden. Die moderne R. ist aber nicht bei der Bearbeitung des positiven Staatsrechts stehen geblieben, sie hat vielmehr auch die allgemeinen Merkmale staatlicher Wirksamkeit und die Grundbedingungen zu entwickeln gesucht, welche in dem besondern Staatsrecht der einzelnen Staaten zur Erscheinung kommen. So ist die Wissenschaft des allgemeinen Staatsrechts ins Leben gerufen, welche in Deutschland an Karl Salomo Zachariä, Bluntschli, Robert v. Mohl und Held namhafte Bearbeiter fand. Auch die kirchenrechtliche Litteratur gewann in neuerer Zeit infolge des in Deutschland zwischen Staat und Kirche bestehenden Konflikts an Bedeutung (s. Kirchenrecht). Eine wichtige Disziplin ist ferner das Völkerrecht (s. d.) geworden, ein Gebiet, auf welchem wissenschaftliche Forschung vielfach den Mangel positiver Rechtsvorschriften auszugleichen wußte. Eine noch junge Wissenschaft ist die vergleichende R., welche sich eine systematische Vergleichung der Rechtsinstitute verschiedener Völkerschaften zur Aufgabe stellt, eine wissenschaftliche Thätigkeit, an welcher Juristen aller Kulturvölker Anteil nehmen. An encyklopädischen Darstellungen und Übersichten der gesamten R. ist in Deutschland kein Mangel. Neben den Werken von Ahrens, Arndts, Bluhme, Goldschmidt, Walter und Warnkönig ist namentlich des „Rechtslexikons“ von Weiske (Leipz. 1839–61, 15 Bde.) und der „Encyklopädie der R.“ von Holtzendorff (4. Aufl., das. 1882), verbunden mit einem Rechtslexikon (3. Aufl. 1880 ff., 3 Bde.), zu gedenken. Vgl. Arndts, Juristische Encyklopädie und Methodologie (7. Aufl., Stuttg. 1880); Merkel, Juristische Encyklopädie (Berl. 1885); Gareis, Encyklopädie und Methodologie der R. (Gieß. 1887); Stintzing, Geschichte der deutschen R. (Münch. 1880–85).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: römi-|mischen