MKL1888:Lügendichtungen

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Lügendichtungen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 19 (Supplement, 1892), Seite 594596
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Lügendichtungen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 594–596. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:L%C3%BCgendichtungen (Version vom 13.05.2024)

[594] Lügendichtungen, die einfachsten und leichtesten Erzeugnisse der Lust zu fabulieren, die ihres Erfolgs bei einfachen Menschen sicher sind. Die ältere Sprache bezeichnete sie vor allem als Gedichte, d. h. Erdichtungen und Erfindungen von unmöglichen Dingen, welche das Lachen oder Staunen des Hörers bezweckten, sei es durch widersinniges Verkehren oder durch aufschneiderisches Übertreiben des Wirklichen. Sie sind der Volkspoesie aller Völker eigen, aber auch die Kunstdichtung verschmäht ihre Mittel nicht.

In Deutschland ist das älteste schriftlich festgehaltene Erzeugnis dieser Gattung der sogen. „Modus florum“, ein lateinisches Gedicht aus dem 10. oder 11. Jahrh. Es ist ein Lügenmärchen, dessen Inhalt sich zum Teil als indogermanisch erweist, da er sich nicht nur mit neuern deutschen, sondern auch mit litauischen, serbischen, romanischen und andern Märchen berührt. Manches braucht nur in einem andern Tone erzählt zu werden, um in weitverbreitete Mythen einzugreifen, in das Märchen vom Schlaraffenland, in die uralte Rätselpoesie. Was in diesen und andern Märchen an unglaublichen Dingen erzählt wird, tischt Münchhausen zum großen Teil seinen Zuhörern auf. Aus dem 14. und 15. Jahrh. stammt eine Reihe von deutschen Gedichten, welche beseelte und unbeseelte Wesen die verkehrtesten, seltsamsten, aberwitzigsten Dinge treiben lassen und diese ohne Zusammenhang aneinander reihen, jedenfalls Erzeugnisse fahrender Leute. Das bekannteste unter ihnen ist das „Wachtelmäre“, in welchem, ebenso wie heute die Enten in den Zeitungen, die Wachteln Lügen bedeuten. Ein Teil der in diesen Dichtungen einer verkehrten Welt vorkommenden unsinnigen Einzelheiten findet sich wieder in den komischen Rezepten, wie sie besonders in den Fastnachtspielen erteilt werden, wo auch das Lied vom Dr. Eisenbart vorgebildet ist, und in einer Reihe von Volksliedern aus dem 16. und 17. Jahrh., insbesondere in denen vom Schlaraffenlande. Die umfassendste Kompilation dieser Dichtungen bietet der kleine Roman vom Finkenritter aus dem Jahre 1559, den man dem großen Fischart hat zuschreiben wollen. In ihm finden sich Züge aus unsern Märchen, z. B. das von Knoist und seinen Söhnen, und eine Menge volkstümlicher Scherze und Neckereien, wovon noch mancherlei im heutigen Volkslied, in Kinderreim und Kinderspiel fortlebt. Alle diese Stücke spiegeln den Geist der Narrheit wider, der über dem zwischen Mittelalter und Reformation lebenden Geschlecht ruhte, das Fastnachtstreiben der Eulenspiegel und andrer Thoren. Sie bieten aber nicht nur im allgemeinen dem verkehrten und vergeblichen Menschentreiben einen Spiegel, sondern verfolgen auch in einzelnen Zügen bestimmte satirische Zwecke. In derselben Weise wird die verkehrte Welt benutzt in der satirischen Dichtung eines Tieck, eines Glaßbrenner, des „Kladderadatsch“, der „Wespen“ etc. Harmloser sind die Lügenschwänke und -Schnurren, die sich in Aufschneidereien ergehen und unter den zahlreichen Geschichtchen der Facetien- und Anekdotensammlungen seit dem 15. Jahrh. das Ergötzen der Lesewelt bewirkten. Als erste Aufschneider stellen sich [595] in einer Handschrift des 14. Jahrh. Weigger von Landsberg dar, ferner Eulenspiegel und der Kanstätter Lügenschmied in den Facetien des Humanisten Heinr. Bebel (1472–1516). Wohl den ganzen Vorrat von Lügen, welche zu Anfang des 16. Jahrh. umgingen, faßt das Gedicht „Neue Zeittung auß der ganzen Welt“ zusammen, dessen dramatisch gestalteten Stoff der Herzog Heinrich Julius von Braunschweig zu einem Schauspiel verarbeitete. Anderwärts teilen sich mehrere Erzähler in der Weise in die Rolle des Aufschneiders, daß der eine den andern zu übertrumpfen, durch eine zweite Lüge zum Eingeständnis der seinen zu bringen sucht. So verfährt z. B. schon Steinhöwel in seiner Fabelsammlung „Äsop“ von 1474 mit der Geschichte vom großen Hunde, die dann in H. Sachs, B. Waldis und Gellert vorzügliche Bearbeiter fand. Weiter finden sich einzelne Schwänke in J. Freys „Gartengesellschaft“ (1556), in der „Zimmerischen Chronik“ (um 1560), im „Finkenritter“, in Kirchhofs „Wendunmuth“ (1563), Fischarts „Gargantua“, Hans Clauerts „Wirklichen Historien“ (1587), Melanders „Jocoseria“ (1626), Bidermanns „Utopia“ (1644), J. P. Langes „Deliciae academicae“ (1665), in den Schriften Harsdörfers und Abrahams a Santa Clara sowie in einer großen Menge von Anekdotensammlungen des 17. und 18. Jahrh. Manche dieser Jagd-, Reise- und Kriegslügen ist bereits vorgebildet bei Plutarch, im Talmud, in den Legenden der Heiligen, in Sindbads Erzählungen, in den Reisebeschreibungen eines Montevilla etc. Eine größere Anzahl ist vereinigt im Drama des Herzogs Heinrich Julius: „Vincentius Ladislaus“ (1610), im „Volksbuch vom lügenhaften Aufschneider Urban Fettsack“, in „Leben und Thaten des Colophanius Cipripinus“ (in „Meyers Volksbüchern“ Nr. 805–806, S. 82 ff.) und im „Vademekum für lustige Leute“ (Berl. 1781). Letztere Scherzsammlung bezeichnet sich selbst als „aus den besten Schriftstellern zusammengetragen“ und enthält 16 vielleicht von einem Landsmann des K. Fr. Hieronymus Freiherrn von Münchhausen eingesandte „M–h–s–nsche Geschichten“, welche der vormalige Aufseher des Antiquitäten- und Münzkabinetts zu Kassel und Professor Rud. Erich Raspe ins Englische übersetzte und zu einem abgerundeten Ganzen verarbeitet zu Oxford 1786 (bez. Ende 1785) erscheinen ließ. Spätere englische Ausgaben waren mit des Barons Seeabenteuern vermehrt, die besonders aus Lucians „Wahre Geschichte“, aus Holbergs „Nicolai Klimii iter subterraneum“ und mehreren geschichtlichen und Reisewerken geschöpft sind. Als aus dem Englischen übersetzt und erweitert bezeichnet sich das 1786 erschienene deutsche Büchlein: „Wunderbare Reisen des Freyherrn von Münchhausen etc.“, ohne Angabe des Verfassers Gottfr. Aug. Bürger: dieser ist’s, der Münchhausen durch seine deutsche Bearbeitung zum Volksbuche gemacht hat; nicht nur stammt ein Drittel des Buches von ihm, d. h. aus andern als den von Raspe benutzten Quellen, sondern er hat es auch verstanden, die einzelnen Schwänke als Erlebnisse eines Erzählers so zu vereinigen, daß weder Überdruß an der Menge seiner Erlebnisse, noch Zweifel an der Genialität des Aufschneiders entsteht (beste Ausgabe von E. Grisebach, Kollektion Spemann). Münchhausen gilt in allen Ländern als der eigentliche Lügenvater; spätere Humoristen haben die Figur Münchhausens als Mittelpunkt für eigne Schöpfungen ausgenutzt, und es ist unstatthaft, Christian Reuter, den Verfasser des Schelmuffsky (1696), über ihn, ja auch nur neben ihn zu stellen. Die „Curiose und Sehr gefährliche Reißebeschreibung“ Schelmuffskys ist keine Lügendichtung, sie ist nicht einmal in erster Linie gegen die Aufschneidereien der Reisebeschreibungen ihrer Zeit gerichtet, wenn auch diese mit getroffen werden. Die Gestalt des Schelmuffsky geißelt vielmehr das gegen Ende des 17. Jahrh. epidemische Bestreben des Bürgerstandes, über sich hinaus die Manieren der vornehmen Welt anzunehmen, die „artigen“ und gezierten Sitten des Adels, seine galanten Liebesabenteuer und sonstigen Aventuren, wie die französischen Muster sie eingeführt hatten, nachzuahmen. Gegenüber dem Widerspruch zwischen seiner vorgeblich allerwärts siegreichen Liebenswürdigkeit und Klugheit und seinem tölpelhaften, ja säuischen Wesen, das er ahnungslos verrät, treten die geographischen und sonstigen Aufschneidereien durchaus zurück, und mag auch der Ton des als Galanthomme sich gebärdenden Rüpels noch so genial getroffen sein, seine Lügen zeigen wenig Genialität und haben mit den volkstümlichen Aufschneidereien gar nichts gemein. Eher kann man den abenteuernden Prahlhans als einen Verwandten der Simplicissimi betrachten, die sich in aufschneiderischen Reisebeschreibungen über den Druck und die Not der jammervollen Wirklichkeit hinwegzutäuschen suchten. Reisehelden dieser Art brachte der Dreißigjährige Krieg ebenso viele hervor wie andre Maulhelden, deren Prahlerei und Feigheit Andreas Gryphius verspottete in den Gestalten des Horribilikribrifax und Daradiridatumtarides, nachdem schon Heinrich Julius in seinem „Vincentius“ den militärischen Großsprecher hatte zu Worte kommen lassen. Kehrte aber Vincentius neben dem Bramarbas noch mehr den gutmütigen Aufschneider auf allen Gebieten hervor, so zeigt sich ersterer rein als miles gloriosus in den Lustspielen des Dänen Ludwig Holberg: „Jakob von Tyboe“ und „Dietrich Menschenschreck“. Hier findet sich die Gestalt des großsprecherischen Soldaten wieder, wie sie in der griechischen Komödie sowohl als insbesondere bei Plautus vorgebildet erscheint. Der hohle Renommist, der Polterer und Eisenfresser, der zugleich der Abgott der Weiber zu sein glaubt, ist die Hauptperson im „Miles gloriosus“ des Plautus, und dieser wurde im 15. Jahrh. das Urbild des Capitano, der zu den ständigen Figuren des italienischen Lustspiels, besonders in der commedia dell’ arte zählte. Eine förmliche Anleitung, den Kapitän in allen Lagen des Lebens zu spielen, gab 1607 Francesco Andreini: „Le bravure del Capitano Spavento“ (deutsch von Johann Rist, 1636). Aber der natürliche Humor ist hier zu Ende, die seltsamsten Abenteuerlichkeiten werden zu Hilfe gerufen neben der Mythologie, den Ritterromanen etc. Der Kapitän spielte nicht nur in Italien fort bis zu Goldoni („L’Amante militare“), sondern zog auch siegreich durch Spanien und Frankreich. Letzteres ist ohnedies das klassische Land der Gasconnaden und Rodomontaden, auch hat es hier nicht an Münchhausiaden gefehlt, wie das wohl 1579 zuerst gedruckte Buch „La nouvelle fabrique des excellents traits de vérité par Mr. d’Alcripe“ beweist. Triumphe feierte der Kapitän auch in England, wo selbst Shakespeare ihn auftreten ließ (als Parolles in „Ende gut, alles gut“, und als Armado in „Der Liebe Müh’ umsonst“), und in Falstaff ein nationales Gegenstück zu ihm schuf. Verwandtschaft mit den L. zeigen die Voyages imaginaires und naturwissenschaftlichen Romane, die besonders in Frankreich ausgebildet wurden von Cyrano de Bergerac und Jules Verne, in England von Swift nach dem Vorbild von Lucians „Wahrer [596] Geschichte“. Vgl. K. Müller-Fraureuth, Die deutschen L. bis auf Münchhausen dargestellt (Halle 1881); Hönncher, Fahrten nach Mond und Sonne. Studien insbesondere zur französischen Litteraturgeschichte des 17. Jahrhunderts (Oppeln 1887).