Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kleist“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 9 (1887), Seite 831833
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Kleist. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 9, Seite 831–833. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kleist (Version vom 03.05.2023)

[831] Kleist, 1) Ewald Christian von, namhafter Dichter, geb. 7. März 1715 auf dem väterlichen Gut Zeblin unweit Köslin in Pommern, besuchte das Gymnasium zu Danzig und die Universität zu Königsberg, ward 1736 dänischer Offizier, 1740 aber von Friedrich II. reklamiert und zum Leutnant beim Regiment des Prinzen Heinrich ernannt. Gleim, der zu jener Zeit in Potsdam lebte, weckte zuerst Kleists dichterische Begabung, und Ramler, den derselbe 1749 kennen lernte, lehrte ihn die Feile an seine Geisteswerke legen, vielfach freilich ohne Schonung der fremden Eigentümlichkeit. Eine unglückliche Liebe trübte früh die natürliche Heiterkeit von Kleists Gemüt. Nachdem er 1744–45 den zweiten Schlesischen Krieg mitgemacht, rückte er 1749 zum Stabskapitän vor, und zwei Jahre später erhielt er eine Kompanie. Nach einer Reise in die Schweiz, wo er fast ein Jahr lang auf Werbung war, und nach einer überstandenen schweren Krankheit hatte er im Mai 1756 eben angefangen, eine Kur in Freienwalde zu gebrauchen, als ihn ein Befehl zum Regiment zurückrief und er ins Feld zog. Schon im folgenden Jahr ward er zum Major und bald darauf zum Direktor eines in Leipzig errichteten Feldlazaretts ernannt. In letzterer Stadt begann er sein kleines Epos „Cissides und Paches“ und gewann unter anderm auch die Freundschaft Lessings, welcher ihn bestimmte, ein Trauerspiel zu schreiben. Es entstand der Entwurf des „Seneca“, ein Fehlversuch, wofür ihn K. selbst erkannte. Im Mai 1758 folgte K. dem Korps des Prinzen Heinrich, welches die Reichsarmee bis hinter Hof zurücktrieb; trotz mehrfacher Zurücksetzung vermochte er sich nicht dazu zu entschließen, seinen Abschied zu nehmen. In der Schlacht bei Kunersdorf 12. Aug. 1759 drang er an der Spitze seines Bataillons gegen eine feindliche Batterie vor, ward an der rechten Hand verwundet, nahm aber den Degen in die Linke und stürmte weiter, als ihm drei Kartätschenkugeln das rechte Bein zerschmetterten. Ohnmächtig blieb K. die Nacht über auf dem Schlachtfeld liegen, wurde von Kosaken ausgeplündert und erst am 13. nach Frankfurt a. O. gebracht. Hier erlag er 24. Aug. 1759 seinen Wunden und ward von der russischen Garnison ehrenvoll begraben. Kleists reines Gemüt spiegelt sich in allen seinen Poesien, vorzüglich in den Erzählungen: „Die Freundschaft“ und „Arist“ sowie in dem Idyll „Irin“. Korrektheit des Ausdrucks, glücklich gewählte Bilder, in denen er gewöhnlich die Natur mit frischem Leben zeichnet, sowie Fülle und Wohlklang der Diktion charakterisieren seine Gedichte, unter denen sein „Frühling“, welcher zuerst 1749 bloß für Freunde gedruckt erschien und dann viele Auflagen erlebte, hohen Beifall errang. Neben dem beschreibenden Gedicht versuchte sich K. auch in der Fabel, im Idyll und in der Hymne. Seine „Sämtlichen Werke“ sind von Ramler (Berl. 1760, 2 Bde.), später von Wilhelm Körte (mit Biographie, das. 1803, 2 Bde.; 5. Aufl. 1853) und neuerdings mit den „Briefen“ von A. Sauer (das. 1884, 3 Tle.) herausgegeben worden. Vgl. Einbeck, Ewald Chr. v. K. (1861).

2) Friedrich Heinrich Ferdinand Emil K., Graf von Nollendorf, preuß. General, geb. 9. April 1762 zu Berlin, wurde 1774 Page des [832] Prinzen Heinrich von Preußen und 1778 Offizier im Infanterieregiment v. Bülow. 1790 trat er als Quartiermeisterleutnant in den Generalstab, und 1803 ernannte ihn der König zu seinem vortragenden Generaladjutanten und betraute ihn mit den wichtigsten Aufträgen. So ward er unter anderm nach der Schlacht bei Jena vom König zu Napoleon I. gesandt, um auf die durch den General Bertrand gemachten Friedensvorschläge zu antworten. Ende 1808 übernahm er bei der neuen Organisation der Armee das Kommando der niederschlesischen Brigade, und 1809 ward er zum Kommandanten von Berlin ernannt. Im russischen Feldzug 1812 befehligte er eine Brigade des Yorkschen Korps und nahm, zum Generalleutnant befördert, im letztern auch am ersten Teil des Kriegs von 1813 teil; er focht mit Auszeichnung bei Halle 28. April und bei Bautzen 20. Mai. Als preußischer Bevollmächtigter schloß er dann den Waffenstillstand von Poischwitz (4. Juni) ab und befehligte nach Ablauf desselben das 2. Korps, welches nebst den Garden zum österreichischen Heer in Böhmen stieß. Nach der Schlacht bei Dresden, wo er ebenfalls ruhmvoll gekämpft, folgte er dem allgemeinen Rückzug. Auf die Nachricht, daß Vandamme bereits auf nähern Wegen in Böhmen eingedrungen und so jeder Rückweg abgeschnitten sei, faßte K. den kühnen Entschluß, sich über Nollendorf in den Rücken des Feindes zu werfen, rückte 30. Aug. in das Thal von Kulm hinab und entschied die Schlacht, welche dem Sieger die Erhebung zum Grafen von Nollendorf erwarb. In der Schlacht bei Leipzig befehligte er den linken Flügel der böhmischen Armee und kämpfte bei Markkleeberg. Nach der Schlacht mit der Blockade von Erfurt beauftragt, setzte er sich durch Konvention in Besitz der Stadt, übergab die Einschließung der Citadellen dem General Dobschütz und folgte der Armee nach Frankreich, wo er sofort 14. Febr. 1814 in die Niederlage der schlesischen Armee bei Etoges verwickelt wurde, aber bei Laon 9. und 10. März wesentlich zum Sieg beitrug. Nach der Schlacht bei Paris (30. März) ward K. von den verbündeten Monarchen nach England zu Ludwig XVIII. gesandt. Der König ernannte ihn hierauf zum General der Infanterie und verlieh ihm als Dotation die Domäne Stötterlingenburg im Fürstentum Halberstadt. Beim Ausbruch des Kriegs von 1815 ward ihm der Befehl über das norddeutsche Armeekorps übertragen; Krankheit nötigte ihn jedoch, denselben bald wieder abzugeben. Nach dem zweiten Pariser Frieden erhielt er das Generalkommando der Provinz Sachsen, bis ihn die zunehmende Zerrüttung seiner Gesundheit 1821 nötigte, dem Dienst ganz zu entsagen. Er erhielt seine Entlassung mit der Würde eines Feldmarschalls und starb 17. Febr. 1823 in Berlin.

3) Heinrich von, deutscher Dichter, der hervorragendste und poetisch mächtigste unter den Vertretern der „romantischen Schule“, ein Verwandter von K. 1), geb. 18. Okt. 1777 zu Frankfurt a. O., Sohn eines preußischen Offiziers, verlor bereits früh seine Eltern, nach deren Tod eine Tante das Haus aufrecht erhielt, trat in das Kadettenhaus zu Berlin, 1792 als Junker in das 1. Garderegiment, avancierte 1795 zum Fähnrich und schließlich zum Leutnant. Er hatte ohne Widerspruch die Familienkarriere eingeschlagen, auch als guter Soldat an den Rheinfeldzügen teilgenommen. In der Eintönigkeit des Garnisonlebens nach dem Baseler Frieden ward ihm klar, daß der militärische Beruf seine Seele leer lasse; ein dunkler Drang, den er fälschlich für das Verlangen nach wissenschaftlicher Bildung und Erkenntnis hielt, erfüllte ihn. Mühsam rang er seiner Familie und seinen militärischen Gönnern die Zustimmung ab, auf der verfallenden Universität seiner Vaterstadt zu studieren, widmete sich während der Jahre 1799 und 1800 dem Studium der Mathematik, der Philosophie und der Kameralwissenschaften, verlobte sich auch während dieser Zeit mit einer Tochter des Generals v. Zenger. Nach drei Semestern an der Philosophie irre geworden und dem Studium irgend einer „Brotwissenschaft“ geringschätzig den Rücken kehrend, verließ K. die Universität mit dunkeln, unbestimmten Zukunftshoffnungen. Er hatte seinen Dichterberuf entdeckt und glaubte ihn nach mannigfachem Wechsel seiner Entschlüsse und äußern Pläne durch ein gewaltiges, alles niederwerfendes Werk mit Einem Schlag erweisen zu müssen. In rascher Folge unternahm er, um das, was eigentlich in ihm vorging, zu verbergen, eine Reihe von Reisen, hielt sich längere Zeit in Paris auf, suchte vergebens seine Braut Wilhelmine zu bestimmen, mit ihm in der Schweiz ein einfaches Bauerndasein zu führen, und dichtete während aller dieser hastig wechselnden Unternehmungen und Pläne an einer Tragödie: „Robert Guiscard“, welche die höchste Vollendung und Wirkungsfähigkeit erreichen sollte. Im Herbst 1803 gab er, das Mißverhältnis seiner Forderungen und seines augenblicklichen poetischen Vermögens erkennend, den gewaltigen Plan auf. Die Verzweiflung über das Scheitern seiner stolzen Hoffnungen glich einem Wahnsinnsanfall; auch die günstige Aufnahme, welche das zwischen der Arbeit an „Guiscard“ gedichtete, groß angelegte, aber durch Willkür und bizarre Laune am Schluß entstellte Trauerspiel „Die Familie Schroffenstein“ inzwischen gefunden, vermochte ihn darüber nicht hinauszuheben. K. ging nach Paris in der Absicht, sich der damals geplanten Expedition von Boulogne anzuschließen und dabei einen ehrlichen Soldatentod zu finden. Wahrscheinlich würde er, paß- und mittellos, wie er war, eher als Spion erschossen worden sein; das Eingreifen des preußischen Gesandten in Paris, Lucchesini, rettete ihn für diesmal. Gebrochen an Leib und Seele, resigniert, ja gedemütigt, kehrte er nach Potsdam zurück, erhielt durch besondere Verwendung der Königin Luise eine kleine Pension und eine Anstellung bei der Domänenkammer zu Königsberg, wohin er im Herbst 1804 abging. Hier gewann er den Mut zu neuem poetischen Schaffen. Ohne die überreizten Anforderungen an sich zu stellen wie beim „Guiscard“, wagte sich der Dichter zunächst an kleinere Formen und Stoffe, schuf seine ersten Novellen: „Die Marquise von O.“ und das „Erdbeben in Chile“, eine freie Bearbeitung des Molièreschen „Amphitryon“ und das einaktige Lustspiel „Der zerbrochene Krug“, welches im Detail zu breit ausgesponnen, sonst aber durch die Fülle echter Komik, die magische Charakteristik und das niederländische Kolorit ausgezeichnet war. Aus diesen litterarischen Bestrebungen und Plänen ward K. im Herbst 1806 durch die Katastrophe des preußischen Staats gerissen. Zum erstenmal kam ihm zum Bewußtsein, wie tief er mit allen Lebensfasern in das Glück und Unglück des Vaterlandes verwachsen sei. Zugleich war das hereinbrechende Unglück auch ein persönlicher Schlag: K. verlor seine Pension und Anstellung und ward, als er sich im Herbst 1807 nach Berlin wagte, verhaftet, ohne Verhör nach Frankreich abgeführt, anfänglich im Fort De Joux gefangen gehalten, später mit preußischen kriegsgefangenen Offizieren in Châlons sur Marne interniert. Die Gefangenschaft lähmte [833] seine dichterische Kraft nicht; von den Eindrücken des Forts De Joux angeregt (wo der Negergeneral Toussaint l’Ouverture gefangen gesessen), schrieb er die Novelle „Die Verlobung auf San Domingo“, begann die Erzählung „Michael Kohlhaas“ und die Tragödie „Penthesilea“, in welcher er die Erhebung, das leidenschaftliche Verlangen und den tiefen, tragischen Sturz seiner Seele in geradezu einziger Weise im Schicksal der Amazonenkönigin und ihrer Leidenschaft zu Achilleus plastisch und farbenprächtig verkörperte. Trotz des entstellenden Schlusses ist „Penthesilea“ in mehr als einem Betracht ein Meisterwerk. In demselben Jahr (1807) nach Deutschland zurückgekehrt, ließ sich der Dichter in Dresden nieder, wo er im Verein mit Adam Müller die Monatsschrift „Phöbus“ und eine Buchhandlung begründete, auf welche er große Hoffnungen setzte, die aber leider an der Ungunst der kriegerischen Zeitläufte scheiterten. Die Dresdener Zeit (bis Frühjahr 1809) war nichtsdestoweniger Kleists produktivste Periode: er vollendete nicht nur „Michael Kohlhas“ und „Penthesilea“ (Tübing. 1808), sondern auch das Ritterschauspiel „Das Käthchen von Heilbronn“ (Berl. 1810), das populärste seiner Werke. Seltsam unwirklich und phantastisch in den Voraussetzungen, aber heimisch, traut, lebendig, voll echter Empfindung und naiven, quellenden Lebens, versagte das Schauspiel selbst in den Verballhornungen, in denen es auf die Bühne gelangte, seine Wirkung nicht. Schließlich entstand noch in Dresden das Drama „Die Hermannsschlacht“, in welchem K. seinen wilden patriotischen Zorn über die Schmach des Rheinbundes und der Fremdherrschaft, sein Rache- und Befreiungsverlangen durch die Darstellung der Varusschlacht verkörperte. Das Drama ward in demselben Augenblick abgeschlossen, als sich Österreich im Frühling 1809 gegen Napoleon erhob. K. teilte die Hoffnungen, die auf diese Erhebung gesetzt wurden, begab sich nach Prag und in die Nähe des österreichischen Lagers und gedachte der großen Sache mit seiner Feder und, wenn es sein könne, mit seinem Degen zu dienen. Die Schlacht von Wagram und der ihr folgende Waffenstillstand machten allen Hoffnungen und Plänen ein Ende; Kleists patriotisch-poetischer Aufruf „Germania an ihre Kinder“ sollte erst mehrere Jahre später zur Wahrheit werden. Gebeugter, erbitterter als je, verließ er die österreichischen Staaten und kam im Herbst 1809 aussichts- und hoffnungslos nach Berlin zurück. Um nicht zu verhungern, gab er mit Ad. Müller die unbedeutende Zeitschrift „Berliner Abendblätter“ heraus und publizierte seine „Erzählungen“ (Berl. 1810). Während er aber in düsterer Melancholie, äußerlich mannigfach gedrückt, dahinlebte, trieb seine Dichtung gleichwohl ihre schönste Blüte, das Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“, ein echt vaterländisches Schauspiel, charakteristisch, kräftig, eigenartig, im ganzen trotz einiger bedenklicher Szenen von reiner, klarer Vollendung, dabei „eine Allegorie im edelsten Stil, denn im Charakterbild des Prinzen von Homburg bildete K. offenbar sein eignes Schicksal ab“. Die Erwartung, das Stück in Berlin aufgeführt zu sehen, ward nicht erfüllt. K., der seinen Lebensmut immer tiefer gebeugt fühlte, hatte zu seinem Unglück in dieser Zeit eine Freundin, Frau Henriette Vogel, gewonnen, die an einer unheilbaren Krankheit litt, bei sich wie bei dem Freund Selbstmordgedanken nährte und den begreiflichen Lebensüberdruß des unglücklichen Dichters zu einer That aufstachelte. Am 21. Nov. 1811 erschoß K. die Freundin und sich selbst in der Nähe des Wansees bei Potsdam. Erst ein Jahrzehnt nach seinem Tod begann die Anerkennung von Kleists großem, kräftigem, auf das Höchste der Dichtung, auf echte Gestaltenschöpfung und volle Lebenswärme, gerichtetem Talent. Von der Herausgabe seiner „Hinterlassenen Werke“ durch Ludwig Tieck (Berl. 1821) an war Kleists Wirkung und Geltung beständig im Steigen; von seinen Dramen eroberten sich „Der Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“, „Das Käthchen von Heilbronn“, neuerlich auch die „Hermannsschlacht“ die Bühne. Die „Gesammelten Schriften“ Kleists wurden herausgegeben von Ludw. Tieck (Berl. 1826, 3 Bde.; revidiert von Jul. Schmidt, zuletzt 1874, 3 Bde.), von Heinr. Kurz (Hildburgh. 1872, 2 Bde.), von A. Wilbrandt (Berl. 1879), von Grisebach (Leipz. 1884, 2 Bde.), von Zolling (Stuttg. 1884); die „Politischen Schriften“ (hrsg. von Rud. Köpke, Berl. 1862) bilden eine Art Nachtrag dazu. Briefe Kleists wurden von E. v. Bülow („Kleists Leben und Briefe“, Berl. 1848), Koberstein („Kleists Briefe an seine Schwester Ulrike“, das. 1860), Zolling (in „H. v. K. in der Schweiz“, Stuttg. 1881) und K. Biedermann („H. v. Kleists Briefe an seine Braut“, Bresl. 1883) veröffentlicht. Vgl. Wilbrandt, Heinrich v. K. (Nördling. 1863); Brahm, Heinrich v. K. (Berl. 1884).

4) Hans Hugo von, s. Kleist-Retzow.