Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Herder“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 8 (1887), Seite 413417
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Herder. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 413–417. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Herder (Version vom 25.04.2024)

[413] Herder, 1) Johann Gottfried von, einer der hervorragendsten und einflußreichsten Schriftsteller und Denker Deutschlands, dem klassischen Viergestirn von Weimar von jeher hinzugezählt, aber erst in den letzten Jahrzehnten in seiner ganzen Bedeutung wieder gewürdigt, ward 25. Aug. 1744 zu Mohrungen in Ostpreußen als Sohn des Kantors, Glöckners und Schullehrers Gottfried H. und dessen zweiter Ehefrau, Anna Elisabeth Pelz, geboren. Die Verhältnisse seiner Eltern waren bescheiden und beschränkt, nicht aber so dürftig, daß sie auf eine bessere Erziehung ihrer Kinder und namentlich des Knaben, dessen Begabung früh zu Tage trat, durchaus hätten verzichten müssen. H. besuchte die Stadtschule unter Rektor Grim, erwarb in ihr gute Kenntnisse und wurde zum Studium der Theologie bestimmt. Erst die unerfreuliche Thatsache, daß eine Thränenfistel am rechten Auge sein sonst wohlgebildetes Gesicht entstellte, der Druck und die Not, welche mit dem Siebenjährigen Krieg über die Bewohner von Ostpreußen hereinbrach, vor allem aber die unfreundliche und willkürliche Einmischung des seit 1760 an der Mohrunger Stadtkirche amtierenden Diakonus S. F. Trescho, der Herders Eltern zu bestimmen suchte, den Knaben ein Handwerk lernen zu lassen, kreuzten die künftigen Lebenspläne. Trescho nahm den Knaben um seiner Brauchbarkeit willen als Famulus in sein Haus, und des Patrons litterarische Thätigkeit wie seine Bibliothek weihten denselben in mancherlei Wissen und mancherlei Mysterien der Litteratur ein. Im ganzen war es eine Lage, welche dem jungen H. unauslöschlich trübe und bittere Erinnerungen hinterließ, und aus der er zuletzt nur durch das Eingreifen eines russischen Regimentschirurgen erlöst wurde, der sich erbot, ihn zur Erlernung der Chirurgie nach Königsberg und später nach Petersburg mitzunehmen. H. langte im Hochsommer 1762 in der ostpreußischen Hauptstadt an, und da er alsbald erkannte, daß er für den von seinem Beschützer in Aussicht gestellten Beruf gänzlich ungeeignet sei, ließ er sich 10. Aug. als Studiosus der Theologie immatrikulieren. An dem Buchhändler Kanter, dem er sich schon von Mohrungen aus durch Zusendung des „Gesanges an Cyrus“ empfohlen hatte, gewann er einen hilfreichen Gönner, und durch seine Anstellung als Lehrer an der Elementarschule des Collegium Fridericianum ward er der drückendsten Not rasch überhoben und überließ sich rückhaltlos seinem Bildungsdrang. Bedeutenden Einfluß auf die geistige Entwickelung des Jünglings übte von den Universitätslehrern nur Kant, außerhalb der Universitätskreise aber der „Magus aus Norden“, der originelle J. G. Hamann. Unter den Einwirkungen seiner mannigfaltigen und ausgebreiteten Lektüre wirkte keine tiefer, sein ganzes Wesen bestimmender als die der Schriften J. J. Rousseaus. Herders erste litterarische Versuche waren Gedichte und Rezensionen für Kanters „Königsbergische Zeitung“; daneben regten sich mannigfache litterarische Pläne. Im Herbst 1764 ward H. als Kollaborator an die Domschule nach Riga berufen, später auch als Pfarradjunkt an den Jesus- und Gertraudenkirchen angestellt, so daß er in der alten Hauptstadt Livlands, die sich damals noch fast republikanischer Selbständigkeit erfreute, einen ausgebreiteten und nicht unwichtigen Wirkungskreis fand. Die Kreise des städtischen Patriziats erschlossen sich dem jungen vielversprechenden Mann, der sich in ihnen mancher Anregung und eines bis dahin ungekannten Lebensgenusses erfreute. Unter so günstigen Umständen eröffnete H. mit den „Fragmenten über die neuere deutsche Litteratur“ (Riga 1766–67), dem Schriftchen „Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, [414] an seinem Grab errichtet“ (das. 1768) und den „Kritischen Wäldern“ (das. 1769) seine große litterarische Laufbahn. Mit den Sätzen der „Litteraturfragmente“, daß die litterarischen Erzeugnisse aller Nationen durch den besondern Genius der Volksart und Sprache bedingt sind, daß darum die Nachahmung keiner fremden Litteratur die deutsche fördern könne, mit der Polemik gegen das schon lange andauernde Übergewicht der lateinischen Sprache und Litteratur hatte H. seine selbständige Stellung in dem großen Kampf der Zeit genommen. Die Angriffe gegen die seichte und verächtliche Clique der Klotzianer waren nur Konsequenzen seiner Anschauungen. Gleichwohl hatte sich H. Klotz und den Seinen gegenüber Blößen namentlich durch die Ableugnung der Autorschaft der „Kritischen Wälder“ gegeben und ward, wie im spätern Leben noch oft, in ärgerliche Händel verwickelt, die ihm selbst das Behagen an seiner sonst so günstigen Stellung in Riga verleideten. Starker Reisedrang und das Verlangen, sich für eine künftige große Wirksamkeit (welche er sich mehr als eine praktische denn als eine litterarische dachte) allseitig vorzubereiten, veranlaßten H., im Frühling 1769 seine Entlassung zu begehren, die man ihm gewährte in der Hoffnung, daß er zurückkehren werde. Mit Beihilfe einiger nächster Freunde, namentlich seines Verlegers Hartknoch, trat er im Juni d. J. eine große Reise an, die ihn zunächst zu Schiff nach Nantes führte, von wo er im November nach Paris ging. Weil er sich rasch überzeugen mußte, daß es nicht möglich sein werde, mehrjährige Reisen nur mit Unterstützung seiner Freunde durchzuführen, war ihm der Antrag des fürstbischöflich lübeckischen Hofs zu Eutin, den Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm als Reiseprediger zu begleiten, ganz willkommen. Anfang 1770 kam er nach Eutin und brach im Juli d. J. von dort mit dem Prinzen auf. Noch vor der Abreise hatte ihn ein Ruf des Grafen Wilhelm von Lippe in Bückeburg erreicht; gleich darauf lernte H. in Darmstadt seine nachmalige Gattin, Marie Karoline Flachsland (geb. 28. Jan. 1750 zu Reichenweier im Elsaß), kennen. Eine rasch gefaßte und erwiderte Neigung nährte in H. den Wunsch nach festen Lebensverhältnissen. Er folgte dem Prinzen nur bis Straßburg, begehrte vom eutinischen Hof seine (im Oktober gewährte) Entlassung, nahm die vom Grafen zur Lippe angetragene Stellung als Hauptprediger der kleinen Residenz Bückeburg und als Konsistorialrat an, blieb aber dann um einer (leider mißglückten) Augenoperation willen den Winter in Straßburg und knüpfte hier die freundschaftlichen Beziehungen zu dem um fünf Jahre jüngern Goethe an. Ende April 1771 trat H. seine neue Stellung in Bückeburg an. Sein Verhältnis zu dem Landesherrn des kleinen Ländchens, dem berühmten Feldherrn Grafen Wilhelm, ward bei aller Achtung, die der durch und durch soldatische und an keinen Widerspruch gewöhnte Fürst ihm zollte, kein erfreuliches. Auch als Graf Wilhelms Gemahlin, die liebenswürdige fromme Gräfin Maria, sich H. in herzlicher Verehrung anschloß, betrachtete dieser den Aufenthalt in Bückeburg als ein Exil. Verschönert ward ihm dasselbe durch die treue Liebe seiner jungen Gattin, nachdem er im Mai 1773 Karoline Flachsland heimgeführt; resultatreich gemacht durch seine Studien und Arbeiten. Die Zeit des Bückeburger Aufenthalts war für H. die eigentliche Sturm- und Drangperiode. Mit der geistvollen, von der Berliner Akademie preisgekrönten Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“ (Berl. 1772), die er noch in Straßburg begonnen, eröffnete er die lange Reihe der verschiedenartigsten Schriften, durch welche er bahnbrechend und pfadzeigend für die junge Litteratur ward, und in denen die Phantasie nicht bloß berechtigtermaßen das erste, sondern manchmal auch das letzte Wort hatte. Mit den beiden Aufsätzen über „Ossian und die Lieder alter Völker“ und über „Shakespeare“ in den fliegenden Blättern „Von deutscher Art und Kunst“ (Hamb. 1773) und der Schrift „Ursache des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblüht“ trat er in den Mittelpunkt der Bewegung, welche eine aus dem Leben stammende und auf das Leben wirkende, echte Natur atmende Dichtung wiedergewinnen wollte. Mit der Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (o. O. [Riga] 1774) erklärte er der prahlerischen und öden Aufklärungsbildung des Jahrhunderts den Krieg. Rief schon diese Arbeit die entschiedensten Widersprüche, ja Herabsetzungen und Verlästerungen Herders hervor, so war dies in noch höherm Grade der Fall bei Herders theologischen und halbtheologischen Schriften, der „Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts“ (Riga 1774–76, 4 Tle.), den „Briefen zweener Brüder Jesu in unserm Kanon“ (Lemgo 1775), den „Erläuterungen zum Neuen Testament, aus einer neueröffneten morgenländischen Quelle“ (Riga 1775) und den 15 Provinzialblättern „An Prediger“ (Leipz. 1774). Die Angriffe, die er erfuhr, veranlaßten ihn, seine schon zum Druck vorbereitete Sammlung der „Volkslieder“ zurückzuhalten. Sie brachen ihm den Entschluß des Weiterwirkens nicht, aber sie steigerten eine hypochondrische Reizbarkeit und ein dämonisches Mißtrauen, welche in Herders Seele früh erwacht waren. H. verhandelte eben wegen einer Berufung an die Universität Göttingen (wo man ihm ein Kolloquium zur Prüfung seiner angezweifelten Orthodoxie auferlegen wollte), als ihm durch Goethes freundschaftliche Bemühungen im Frühjahr 1776 die Vokation als Generalsuperintendent, Mitglied des Oberkonsistoriums und erster Prediger an der Stadtkirche zu Weimar zu teil ward. Sein Weggehen von Bückeburg folgte dem Tod seiner Gönnerin, der Gräfin Maria, fast auf dem Fuß. Am 2. Okt. 1776 traf H., der besten Erwartungen und des besten Willens voll, in Weimar ein. Da aber gleich im Beginn seiner Wirksamkeit ein Versuch gemacht wurde, ihm seine eigentliche Gemeinde zu entziehen, und H. nur durch die tapfere Erklärung, unter solchen Umständen lieber auf den Antritt seines Amtes verzichten zu wollen, das Feld behauptete, so war auch hier von Haus aus ein Argwohn und bitteres Gefühl wachgerufen. Herders amtliche Stellung wie persönliche Natur verboten ihm, an dem rauschenden Karneval in den ersten Regierungsjahren Karl Augusts Anteil zu nehmen. Obschon er rühmte: „Ich bin hier allgemein beliebt, bei Hofe, Volk und Großen, der Beifall geht ins Überspannte. Ich lebe im Strudel meiner Geschäfte einsam und zurückgezogener, als ich in Bückeburg nur je gelebt habe“, so blieben Mißhelligkeiten nicht aus. Da H. wahrzunehmen glaubte, daß in dem engern Kreis des Herzogs eine gründliche Gleichgültigkeit, ja verächtliche Geringschätzung gegen Kirche und Schule vorherrsche, vertrat er nicht nur, was sein gutes Recht war, deren Interessen aufs kräftigste und eifrigste, sondern setzte sich in Opposition gegen nahezu alle Meinungen, Richtungen und Neigungen jenes Kreises. Und so gewiß Weimar eine große Verbesserung Bückeburg gegenüber heißen durfte, so fühlte sich H. von der Kleinlichkeit und Enge auch vieler weimarischer Verhältnisse gedrückt. Dennoch wirkte die veränderte [415] Lage günstig auf ihn, und wenn er auch herkömmlich über mancherlei Bürden seines Amtes klagte, so nahm gleichwohl seine litterarische Produktivität einen großen und immer gewaltigern Aufschwung. Der Läuterungsprozeß, durch welchen sich die hervorragendsten Repräsentanten des Sturms und Dranges in die Hauptträger der deutschen klassischen Litteratur verwandelten, nahm auch bei H. zu Ausgang der 70er Jahre seinen Anfang. Die hochbedeutsame philosophische Abhandlung „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume“ (Riga 1778), die „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum“ (das. 1778) und die Herausgabe der „Lieder der Liebe“ (Leipz. 1778) sowie der längst vorbereiteten „Volkslieder“ (erst später von Johannes v. Müller „Stimmen der Völker in Liedern“ betitelt, das. 1778–79) waren seine ersten von Weimar aus in die Welt gesandten Publikationen. Die von der Münchener Akademie preisgekrönte Abhandlung „Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten“ (1778) galt einem neuen Nachweis, daß echte Poesie die Sprache der Sinne, erster mächtiger Eindrücke, der Phantasie und der Leidenschaft, daher die Wirkung der Sprache der Sinne allgemein und im höchsten Grad natürlich sei, eine Wahrheit, welche die mit umfassender Litteraturkenntnis ausgewählten, lebendig nach- und anempfundenen, zum größten Teil vorzüglich übersetzten „Volkslieder“ eben weiten Kreisen zum Bewußtsein brachten.

Einen höchst glücklichen Einfluß auf Herders weitere geistige Entwickelung übte seit den ersten 80er Jahren das wiederhergestellte innige Verhältnis Herders und seines Hauses zu Goethe. H. trat in den regsten Gedankenaustausch wie in den lebendigsten persönlichen Verkehr zu dem jüngern Freund, und während er seinen Weg unter dessen bewundernder Teilnahme weiter verfolgte, steigerte sich sein Gefühl für Schönheit und Klarheit des Vortrags, selbst sein poetisches Ausdrucksvermögen durch den reinen Formensinn Goethes. In seinem Familienleben ward H. durch die dauernde tiefinnige Liebe seines Weibes und die erfreulich heranwachsenden Kinder beglückt. Freilich brachten auch die Sorgen um die Bildung und Zukunft dieser Kinder, eine gewisse Großartigkeit seines Naturells, welche mit den nicht dürftigen, aber mäßigen Einnahmen nie völlig in Harmonie kam, und mancherlei Krankheiten Herders, für welche er schon seit 1777 auf Badereisen Erholung zu suchen hatte, dunkle Stunden und Tage auch in diese lichtesten Jahre von Herders Leben. In ebendiesen 80er Jahren entstand beinahe alles, was Herders immer genialem Wirken durch innere Reife und äußere Vollendung bleibende Nachwirkung sicherte. Bezogen sich die „Briefe, das Studium der Theologie betreffend“ (Weim. 1780–81, 4 Tle.) und eine Reihe von vorzüglichen Predigten auf Herders Amt und nächsten Beruf, so leitete das große, leider unvollendet gebliebene Werk „Vom Geiste der Ebräischen Poesie“ (Dessau 1782–83, 2 Tle.) von der Theologie zur Poesie und Litteratur hinüber. Aus der tiefsten Mitempfindung für die Naturgewalt, die Frömmigkeit und eigenartige Schönheit der hebräischen Dichtung wuchs ein Werk hervor, von welchem Herders Biograph (R. Haym) mit Recht rühmt, daß es „für Kunde und Verständnis des Orients Ähnliches geleistet wie Winckelmanns Schriften für das Kunststudium und die Archälogie“. 1785 aber begann H. die Herausgabe seines großen Hauptwerkes, der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (Riga 1784–91, 4 Bde.), die endliche Ausführung eines Lieblingsplans, die breitere Ausführung von Gedanken, welche er längst in kleinern Schriften in die Welt gesandt hatte, und wiederum die energische Zusammenfassung alles dessen, was er über Natur und Menschenleben, die kosmische Bedeutung der Erde, über die Aufgabe des sie bewohnenden Menschen, „dessen einziger Daseinszweck auf Bildung der Humanität gerichtet ist, der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen sollen“, was er über Sprachen und Sitten, über Religion und Poesie, über Wesen und Entwickelung der Künste und Wissenschaften, über Völkerbildungen und historische Vorgänge gedacht und (wie seine Gegner erinnerten) geträumt hatte. Die Aufnahme des Werkes entsprach dem großen Verdienst desselben. Gleichzeitig veröffentlichte H. die hochinteressante und nach den verschiedensten Richtungen bedeutende Sammlung seiner „Zerstreuten Blätter“ (Gotha 1785–97, 6 Tle.), in welcher eine Reihe der schönsten Abhandlungen und poetischen Übersetzungen die Geistesfülle und sittliche Grazie des Schriftstellers in herzgewinnender Weise offenbarte.

Einen großen Abschnitt in Herders Leben bildete die Reise, welche er 1788–89 nach Italien unternahm. Seine hypochondrische Reizbarkeit und mancherlei ungünstige Zufälle wirkten zusammen, ihn eigentlich nur in Neapel zum Vollgenuß dieser Reise kommen zu lassen; doch empfing er bedeutende und bleibende Eindrücke, die vielleicht noch günstiger gewirkt hätten, wenn ihn nicht in Italien eine abermalige ehrenvolle und vielverheißende Berufung nach Göttingen erreicht und die schwere Frage des Gehens oder Bleibens in Weimar ihn während der Rückreise gequält hätte. Goethe, von der Erwägung ausgehend, daß der Freund dem Kathederärger in Göttingen noch weniger gewachsen sein werde als dem Hof- und Konsistorialärger in Weimar, wirkte für Herders Bleiben und konnte im Einverständnis mit dem Herzog Tilgung der Herderschen Schulden, Gehaltsverbesserungen und mancherlei tröstliche Verheißungen für die Zukunft bieten. In seinen freundschaftlichen Erwägungen hatte er nur vergessen, daß in gewissen Lebenslagen und Gemütszuständen die bloße Veränderung eine Wohlthat und Notwendigkeit sein kann. H. ließ sich mit einem gewissen Widerwillen zum Bleiben bestimmen; beide Freunde sollten dieser Entscheidung nur kurze Jahre froh werden. Herders Gesundheitszustände waren nur vorübergehend gebessert, körperliche Leiden brachen ihm Lebenslust und Arbeitskraft; der fünfte Teil der „Ideen“ blieb ungeschrieben, und bereits die „Briefe zur Beförderung der Humanität“ (Riga 1793–97, 10 Sammlungen) trugen die Farbe seines verdüsterten Geistes. Die materiellen Sorgen im Herderschen Haus hatten sich leider nur vorübergehend gemildert, und die nur halb gerechtfertigten Ansprüche, welche H. und seine Gattin auf Grund der Abmachungen von 1789 erhoben, führten zu einem unheilbaren Bruch mit Goethe. H. hatte schon zuvor mit reizbarer Eifersucht die wachsende Intimität zwischen Goethe und Schiller betrachtet. So trat allmählich ein Zustand der Isolierung und kränklich verbitterten Beurteilung alles ihn umgebenden Lebens bei H. ein. Die geistigen Gegensätze, in denen er sich zur Philosophie Kants, zur klassischen Kunst Goethes und Schillers fand, verstärkte und verschärfte H. gewaltsam und ließ sie in seinen litterarischen Arbeiten mehr und mehr hervortreten. Zwar gab er, sowie er auf neutralem Gebiet stand, auch jetzt noch Vorzügliches und Erfreuliches. [416] Seine „Terpsichore“ (Lübeck 1795), welche den vergessenen neulateinischen Dichter Jakob Balde wieder einführte, seine „Christlichen Schriften“ (Riga 1796–1799, 5 Sammlungen), in denen das unbeirrteste Gefühl für den eigentlichen Kern des Christentums den schönsten und maßvollsten Ausdruck fand, seine Aufsätze für Schillers „Horen“ bewährten den alten Herderschen Geist. Aber voll grimmer Bitterkeit und dazu mit unzulänglichen Waffen bekämpften Herders „Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft“ (Leipz. 1799, 2 Tle.) und die „Kalligone“ (das. 1800) die Philosophie Kants, voll absichtlicher Verkennung und unwürdiger Lobpreisung des Abgelebten und Halben richtete seine „Adrastea“ (das. 1801–1803, 6 Tle.) alle ihre versteckten Spitzen gegen die lebendige, schönheitsfreudige Dichtung Goethes und Schillers. Nur die Qual eines Zustandes, der ihn tief niederdrückte, und in dem er sich selbst bald als „dürrer Baum und verlechzte Quelle“, bald als „Packesel und blindes Mühlenpferd“ schilderte, konnte diese letzte verhängnisvolle Wendung seiner litterarischen Thätigkeit entschuldigen. Letzte Erquickung bereitete ihm, dessen körperliche Kraft mehr und mehr erlag, die poetische Arbeit an seinen „Legenden“, an der Übertragung der Romanzen vom „Cid“ und an den dramatischen Gedichten: „Prometheus“ und „Admetus’ Haus“. Die Annahme eines vom Kurfürsten von Bayern 1802 ihm verliehenen Adelsdiploms bereitete H. schweren Ärger, und seine endliche Ernennung zum Präsidenten des Oberkonsistoriums kam zu spät, ihm Lebensmut zurückzugeben. In den Sommern 1802 und 1803 suchte er Heilung in den Bädern von Aachen und am Egerbrunnen, im Herbste des letztgenannten Jahrs erfolgte ein neuer heftiger Anfall seines unheilbaren Leberübels, dem er 18. Dez. 1803 erlag. Vor der Stadtkirche zu Weimar wurde ihm 1850 ein ehernes Standbild (modelliert von Schaller) errichtet.

Mannigfach rätsel- und widerspruchsvoll, ungleicher in seinen Leistungen als seine großen Zeitgenossen, aber unvergleichlich reich, vielseitig, voll höchsten Schwunges und schärfster Einsicht, eine Fülle geistigen Lebens in sich tragend und um sich erweckend, steht H. in der deutschen Litteratur. In der großen Umbildung des deutschen Lebens am Ende des vorigen Jahrhunderts hat er mächtiger und entscheidender eingegriffen als einer, und die Spuren seines Geistes lassen sich in der Litteratur im engern Sinn, in Fachwissenschaften und Spezialzweigen, die aus seinen Anregungen hervorgegangen sind, überall nachweisen. Der verschwenderische Überreichtum seiner Gedanken, die Genialität seiner Einsichten und die wunderbarste Anempfindung für das echt Poetische offenbaren sich in beinahe allen seinen Werken; die Forderung der „Humanität“, der Heranbildung und Läuterung zum vergöttlichten Menschlichen, einem Lebens- und Bildungsideal, dem noch ganze Jahrhunderte nachringen können, ist der durchgehende Grundgedanke in der Vielheit und Mannigfaltigkeit seiner Schriften. Bei allen seinen Gaben war ihm die künstlerische Gestaltungskraft versagt, so daß er als Dichter nur in einzelnen glücklichen Momenten und auf dem Gebiet der didaktischen Poesie zu wirken vermochte. Die Verbindung seines eignen ethischen Pathos mit Stimmungen und Gefühlen, welche ihm aus der Dichtung der verschiedensten Zeiten und Völker aufgingen, war nie ohne Reiz; sein Verdienst als poetischer Übersetzer, als Aneigner und Erläuterer fremden poetischen Volksgeistes kann kaum zu hoch angeschlagen werden. Die große Zahl von Herders poetischen Übertragungen aus den verschiedensten Sprachen, ihre Auswahl und die Resultate, welche H. jedesmal aus ihnen zog, haben einer allgemeinen, über die „Gelehrtengeschichte“ der voraufgegangenen akademischen Perioden hinauswachsenden Litteraturgeschichte den Boden bereitet. Neben den „Stimmen der Völker in Liedern“ dem „Cid“, den Epigrammen aus der griechischem Anthologie, den Lehrsprüchen aus Sadis „Rosengarten“ und der ganzen Reihe andrer Dichtungen und poetischer Vorstellungen, welche Herders anempfindender Geist für die deutsche Litteratur gewann, stehen jene morgenländischen Erzählungen, jene Paramythien und Fabeln, die H. im Wiedererzählen benutzt, Momente seiner eignen sittlichen Anschauung, seiner Humanitätslehre beizugesellen, und die hierdurch wie durch ihre Vortragsweise zu seinem geistigen Eigentum werden. Höher aber als der Dichter steht überall der Prosaiker H., der große Kulturhistoriker, Religionsphilosoph, der feinsinnige Ästhetiker, der im Sinn Lessings und doch in völlig andrer Erscheinung produktive Kritiker, der glänzende Essayist, der gehaltreiche und in der Form anmutvolle Prediger und Redner. Es ist Herders eigenstes Mißgeschick gewesen, daß die großen Resultate seines Erkennens und Strebens rasch zum Gemeingut der Bildung, seine Anschauungen zu Allgemeinanschauungen wurden, so daß es erst der historischen und kritischen Zurückweisung auf die Genialität, die seelische Tiefe und den verschwenderischen Gedankenreichtum der Herderschen Schriften bedurfte, um das größere Publikum zu denselben zurückzuführen.

Herders „Sämtliche Werke“ erschienen zuerst in einer von J. Georg Müller, Johannes v. Müller und Heyne unter Mitwirkung von Herders Witwe u. Sohn veranstalteten Ausgabe (Stuttg. 1805–20, 45 Bde.; mit den Nachträgen 1827–30, 60 Bde.; spätere Ausg., das. 1852–54, 40 Bde.). Die Entfremdung des Publikums veranlaßte die „Ausgewählten Werke“ in einem Band (Stuttg. 1844), „Geist aus Herders Werken“ (Berl. 1826, 6 Bde.), „Ausgewählte Werke“ (hrsg. von H. Kurz, Hildburgh. 1871, 4 Bde.), „Ausgewählte Werke“ (hrsg. von Ad. Stern, Leipz. 1881, 3 Bde.). Dagegen erstrebten wieder Vollständigkeit die Ausgabe in der Hempelschen „Nationalbibliothek“ (Berl. 1869–79, 24 Tle., mit Biographie von Düntzer) und die große kritische, von Suphan geleitete Ausgabe von „Herders Werken“ (das. 1877 bis 1887, 32 Bde.), eine Musterarbeit ersten Ranges, ein Zeugnis höchster Pietät, Gewissenhaftigkeit und kritischer Sorgfalt. Auf Grund der letztern Ausgabe gaben Suphan und Redlich „Herders ausgewählte Werke“ (Berl. 1884 ff.) in 9 Bänden heraus. Eine ungekrönte Preisschrift Herders: „Denkmal Joh. Winckelmanns“, von 1778 gab Alb. Duncker (Kassel 1882) heraus. Sammlungen von Briefen Herders veröffentlichen Düntzer und F. G. v. Herder in den Werken: „Aus Herders Nachlaß“ (Frankf. 1856–57, 3 Bde.), „Herders Briefwechsel mit seiner Braute“ (das. 1858), „Herders Reise nach Italien“ (Gießen 1859) und „Von und an H.“ (Leipz. 1861–62, 3 Bde.). Vgl. auch Suphan, Goethe und H. („Preußische Jahrbücher“ 1878). Ein sehr reichhaltiger litterarischer Nachlaß Herders ward für die königliche Bibliothek in Berlin angekauft und von Suphan und seinen Mitarbeitern bei der kritischen Ausgabe wohl benutzt.

Von biographisch-kritischen Schriften über H. sind außer den von seiner Gattin gesammelten „Erinnerungen“ (s. unten) und dem von seinem Sohn Emil Gottfried v. H. verfaßten „Lebensbild“ (Erlang. 1846–47, 3 Bde.) zu erwähnen: Danz und Gruber, Charakteristik J. G. v. Herders (Leipz. 1805); [417] ferner: H. Döring, Herders Leben (2. Aufl., Weim. 1829); „Weimarisches Herder-Album“ (Jena 1845); Rosenkranz, Rede zur Säkularfeier Herders etc. (Königsb. 1844); Jegor v. Sivers, H. in Riga (Riga 1868); Derselbe, Humanität und Nationalität, zum Andenken Herders (Berl. 1869); Joret, H. et la Renaissance littéraire en Allemagne (Par. 1875); namentlich aber das biographische Hauptwerk, das alle frühern Versuche weit hinter sich läßt: R. Haym, H. nach seinem Leben und seinen Werken (Berl. 1880 bis 1885, 2 Bde.), eine Meisterleistung streng sachlicher und zugleich liebevoller Lebensdarstellung und Beurteilung. Vgl. außerdem Werner, H. als Theologe (Berl. 1871); J. G. Müller, Aus dem Herderschen Hause, Aufzeichnungen 1780–82 (hrsg. von Bächthold, das. 1881); Renner, Herders Verhältnis zur Schule (Götting. 1871); Bärenbach, H. als Vorgänger Darwins und der modernen Naturphilosophie (Berl. 1877); Lehmann, H. in seiner Bedeutung für die Geographie (das. 1883).

Herders Gattin Maria Karoline, geborne Flachsland, geb. 28. Jan. 1750 zu Reichenweier im Elsaß, lebte nach ihres Vaters Tod bei ihrer Schwester in Darmstadt, wo sie H. kennen lernte, der sich 1773 mit ihr verheiratete. Nach Herders Tod ordnete sie dessen litterarischen Nachlaß und schrieb: „Erinnerungen aus dem Leben Herders“ (hrsg. von J. G. Müller, Stuttg. 1820, 2 Bde.; neue Ausg. 1830, 3 Bde.). Sie starb 15. Sept. 1809 in Weimar. Der älteste Sohn, Wilhelm Gottfried v. H., geb. 1774 zu Bückeburg, studierte in Jena Medizin, ward 1800 Provinzialakkoucheur und 1805 Hofmedikus in Weimar, wo er 1806 starb. Er schrieb: „Zur Erweiterung der Geburtshilfe“ (Leipz. 1803) und nahm teil an der Herausgabe der Werke seines Vaters. Der dritte und jüngste, Emil Gottfried v. H., war bis 1839 bei der Regierung für Schwaben und Neuburg thätig und starb als bayrischer Oberforst- und Regierungsrat 27. Febr. 1855 in Erlangen. Er gab in „Herders Lebensbild“ (Erlang. 1846–47, 3 Bde.) eine liebevolle Darstellung des Lebens und Wirkens seines Vaters. Ein Enkel Herders ist der gegenwärtige weimarische Staatsminister Stichling.

2) Siegmund August Wolfgang, Freiherr von, zweiter Sohn von H. 1), geb. 18. Aug. 1776 zu Bückeburg, studierte in Jena und Göttingen, seit 1797 in Freiberg und dann noch in Wittenberg die Rechte. Im J. 1802 wurde er Bergamtsassessor zu Marienberg, Geyer und Ehrenfriedersdorf, 1803 in Schneeberg und 1804 Oberbergamtsassessor und Bergkommissionsrat in Freiberg. 1806 erhielt er die Aufsicht über die Blaufarbenwerke. Mit der Verbesserung des Betriebes des Eisenhüttenwerks Panki und der Salzwerke von Wieliczka beauftragt, verweilte er mehrere Jahre teils in Warschau, teils in Wien. Vom König von Sachsen in den Freiherrenstand erhoben, kam er unter dem russischen Gouvernement in das Geheime Finanzkollegium nach Dresden. 1821 wurde er zum Berghauptmann und 1826 zum Oberberghauptmann ernannt. Auf Veranlassung des Fürsten Milosch machte er 1835 eine Reise nach Serbien, um den Bergbau dieses Landes zu heben. Er starb 29. Jan. 1838 in Dresden. H. schrieb: „Der tiefe Meißener Erbstollen, der einzige den Bergbau der Freiberger Reviere bis in die fernste Zukunft sichernde Betriebsplan“ (Leipz. 1838) und lieferte „25 Tafeln Abbildungen der vorzüglichsten Apparate zur Erwärmung der Gebläseluft auf den Hüttenwerken“ (Freiberg 1840).


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 429
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[429] Herder, 1) Johann Gottfried von. Sein Briefwechsel mit Nicolai (Berl. 1887) und mit J. G. Hamann (das. 1889) wurde von O. Hoffmann herausgegeben. Vgl. auch Witte, Die Philosophie unsrer Dichterheroen, Bd. 1: „Lessing und H.“ (Bonn 1880); Kronenberg, Herders Philosophie (Heidelb. 1889).