Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Gerste“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 189191
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Gerste. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 189–191. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gerste (Version vom 04.05.2024)

[189] Gerste (Hordĕum L.), Gattung aus der Familie der Gramineen, ein- oder mehrjährige Gräser mit sitzenden oder kurzgestielten, ein- oder mehrblütigen Ährchen zu 1–6 in den Ausschnitten einer bleibenden oder in Glieder zerfallenden Spindel, lineal-lanzettlichen bis borstenförmigen, begrannt zugespitzten Hüllspelzen, an der Spitze begrannten, selten unbegrannten Deckspelzen. Bei den Saatgersten (Crithe Döll.) sind die Deckspelzen, wenigstens der Mittelährchen, breit-elliptisch und begrannt, die einblütigen Ähren ohne Gipfelährchen, und die zähe Spindel zerfällt nicht in Glieder. Gemeine G. (Hordeum vulgare L., H. polystichum Döll.), alle Ährchen sitzend und mit fruchtbaren Blüten und begrannten Deckspelzen, wird in mehreren Varietäten kultiviert: 1) Wintergerste (vierzeilige G., H. vulgare var. α genuinum, H. polystichum α vulgare Döll., Fig. 1), mittlere Ährchen jedes Spindelausschnittes weniger gedrängt, anliegend, Seitenährchen gedrängt, abstehend, die Ähre daher vierkantig. 2) Himmelsgerste (nackte G., H. vulgare var. β coeleste), Frucht mit den Spelzen verwachsen, frei, sonst wie bei der vorigen. 3) Sechszeilige G. (H. vulgare var. γ hexastichon, H. polystichum var. hexastichon Döll., Fig. 2), Ährchen alle gedrängt, abstehend, sechs gleiche Reihen bildend. 4) Zweizeilige G. (Sommergerste, H. distichon L., Fig. 3), Ähre von den nicht mit Ährchen besetzten Seiten zusammengedrückt, mittlere Ährchen fruchtbar, begrannt, aufrecht, Seitenährchen kurzgestielt, männlich, unbegrannt, wird in folgenden Varietäten gebaut: Staudengerste (var. α erectum Schübl. et Mart., Fig. 4), Ähre kurz, dicht, aufrecht; var. β nutans Schübl. et Mart., Ähre lang, locker, nickend; var. γ nudum Arduino (Kaffeegerste), Frucht nicht mit den Spelzen verwachsen. Pfauengerste (Fächer-, Reisgerste, H. zeocriton L.), Mittelährchen samt ihren Grannen in einer Ebene fächerförmig abstehend, sonst wie die zweizeilige G. Zur Untergattung Hordeastrum Döll., mit lanzettlichen, an allen Ähren begrannten Deckspelzen, dichten, cylindrischen Ähren, aufrechten Ährchen, kurzgestielten Seitenährchen und bei der Reife in Glieder zerfallender Ährenspindel gehört die Mauergerste (Mäusegerste, Hordeum murinum L.), mit knieartig gebogenem

Fig. 1. Fig. 3. Fig. 4.
Vierzeilige Gerste (Hordeum vulgare). Zweizeilige Gerste (H. distichon). Staudengerste (H. distichon erectum).
Fig. 2. Fig. 5.  Fig. 6. 
Sechszeilige Gerste (H. hexastichon). Löffelgerste (H. trifurcatum). Fächergerste (H. zeocriton).

Halm, etwa 30 cm hoch, mit über 2,5 cm langer Ähre und gewimperten Spelzen des Mittelblütchens, [190] mit längern Grannen als die vorige, wächst überall an Mauern, Zäunen, Ställen etc., wird von Schafen gefressen. Die Wiesengerste (H. pratense Sm., H. nodosum L.) ist perennierend, 45–80 cm hoch, mit tief grasgrünen, flachen Blättern, etwa 2,5 cm langen Ähren und wimperlosen Blütchen, wächst auf guten, frischen Wiesen, ist gutes, nahrhaftes Futter- und Weidegras und verkündet, wo sie vorkommt, reichen Graswuchs. Zur Ansaat eignet sie sich nur in starker Mischung mit andern Gräsern in feuchtem Klima und auf gutem, etwas bindigem Boden.

Die Kulturgersten gedeihen am besten in mildem Kalkmergelboden, dessen Obergrund sich leicht erwärmt, hinlängliche Bindigkeit besitzt, lange die Frische bewahrt und auf einem Mergelgrund liegt, den die tief gehende Wurzel leicht durchdringt. Auch milder Lehm, der frei von stagnierenden Tag- und Grundwässern ist, sagt der G. zu. Man läßt die G. am besten in der Wechselwirtschaft auf eine gedüngte Hackfrucht folgen. Wegen der Niedrigkeit des Halms vermag sie sich von allen Getreidearten am wenigsten gegen Unkraut zu schützen und verlangt daher ein gut gereinigtes Erdreich. Daher würde ihr auch frischer Dung nachteilig sein, welcher überdies Doppelwüchsigkeit oder Lagerung befürchten läßt. Bei der kurzen Vegetationszeit der G. (vierzeilige 12–14, sechszeilige 16–18 Wochen) gedeiht sie auch noch in mäßig warmem Sommer und hoch im Norden. Aber auch im Süden, in Kleinasien und den Kaukasusländern gibt sie reiche Erträge. Da die Sommergersten bei uns vorzugsweise zur Bierbereitung und zu Graupen verwendet werden, so hat man nicht nur auf die Größe der Ernten, sondern auch auf die Tauglichkeit zur Malzbereitung besondere Rücksicht zu nehmen. Die Wintergerste (vierzeilige, kleine gemeine, Sandgerste, Fig. 1) wird in Norddeutschland und Schweden am häufigsten (als Sommer- und Winterfrucht) gebaut, verträgt weniger bindiges Erdreich als die zweizeilige, ist aber sehr empfindlich gegen Nachtfröste und wird daher sehr spät gesäet. Man unterscheidet vier Varietäten: Wintergerste, Perl-, Bärengerste, Rettema, mit stets beschalten, gelben oder schwarzen (Rußgerste) Körnern, wird besonders in Nordwestdeutschland und am Rhein gebaut, bestockt sich sehr schön, verträgt den geilsten Boden, lagert sich nicht leicht, gibt höhere Erträge als die kleine G. als Sommerfrucht und reichliches, kräftiges Stroh und wird gleich nach dem Einbringen des Heus geerntet (daher Rettema, „rette den Mann“, nämlich durch zeitiges Brot bei hohen Fruchtpreisen). Das Korn ist sehr kleberreich, daher zu Brot und Graupen, aber nicht zur Bierbereitung geeignet. Man baut sie meist nach Raps oder Hackfrucht und säet sehr früh, damit die Bestockung vor Winter beendigt sei. Das Korn wiegt nicht sehr schwer. Die Sommergerste mit beschalten Körnern (kleine, vierzeilige, gemeine, Sand-, Spät-, Zeilen-, Bärengerste), in Norddeutschland die gemeinste Art, gibt noch im guten Mittelboden der Sandregion Erträge, wird in Norwegen noch unter 70° nördl. Br. (Altengard) gebaut, ist leichter als zweizeilige G. und verbraut sich auch nicht so gut wie diese, es sei denn, daß man mit frischer G. malzen müßte. Die Himmelsgerste (Sommergerste mit nackten Körnern, Himalajagerste, ägyptisches Korn, Russen-, Jerusalemsgerste [zum Teil], Griesgerste, walachische G., Davidskorn) verlangt besonders guten, kräftigen Boden, bestockt sich besser, ist gegen Fröste weniger empfindlich, im Halm kräftiger als die vorige und gibt auf kräftigem Boden ebenso gute Ernten wie die zweizeilige G., eignet sich trefflich zur Graupen-, Gries- und Mehlbereitung, aber nicht zum Malzen, unterliegt sehr stark dem Sperlingsfraß und fällt leicht aus. Sehr ähnlich ist ihr die Löffelgerste (H. trifurcatum, Fig. 5), deren Korn statt der Grannen drei in Form einer Gabel abstehende, kleine, spelzenartige, hohle Schuppen trägt; dieselbe wird kaum angebaut. Die sechszeilige G. (Stock-, Roll-, Kiel-, Rot-, Bärengerste, Fig. 2) wird seit etwa 300 Jahren in Deutschland gebaut (nur als Sommerfrucht), hat aber niemals allgemeinere Verbreitung gefunden. Sie geht leicht auf, bestockt sich schön, widersteht gut dem Unkraut, lagert sich weniger leicht, leidet nicht leicht vom Rost und ist in den Ähren sehr ergiebig. Da aber ihre Halme weitläufiger stehen, bringt sie doch keine reichere Ernte als die kleine G. und weniger Stroh. Die Körner malzen zwar gut, sind aber wegen der dicken Spelzen leichter. Die zweizeilige G. (große, Frühgerste, Fig. 3) wird in Mittel- und Süddeutschland allgemein, aber nur als Sommerfrucht angebaut, gedeiht am besten in sehr gutem Kalkmergelboden, aber auch noch vortrefflich in kräftigem Lehmboden der Thon- und Sandkonstitution. Die gemeine lange G. (große, Ziel-, Zeil-, März-, Frühgerste, H. distichon nutans) verlangt einen reinen, sorgsam bestellten Boden, wird frühzeitig gesäet und bestockt sich stark, eignet sich trefflich zur Malzbereitung. Die kurze G. (Stauden-, Platt-, Spiegel-, Hainfelder G., H. distichon erectum, Fig. 4) hat manche Vorzüge vor der vorigen; doch ist das Stroh etwas geringer, der Ausdrusch schwerer, auch keimt sie schneller beim Malzen und darf daher mit der vorigen nicht gemischt werden. Die Brauer ziehen deshalb jene vor. Die zweizeilige, nackte G. (Himmels-, Himalaja-, Kaffeegerste) wird wie die gemeine zweizeilige G. kultiviert, verlangt aber ausgesprochen kräftigen Gerstenboden, gibt geringern Ertrag als jene, aber ungemein schwere Körner. Ihre Verwertung ist beschränkt, und deshalb kommt sie nicht in allgemeinere Kultur. Die Fächergerste (Pfauen-, Bart-, Wucher-, Riemen-, türkische, Peters-, Dinkel-, Jerusalemer G. [zum Teil], Hammelkorn, Fig. 6) bestockt sich ungemein stark, keimt schneller als gemeine G., hat steife Halme, wird selten vom Rost befallen, widersteht auch der ungünstigen Witterung, fällt nicht aus, ist vor Sperlingsfraß geschützt, vorzüglich zum Malzen geeignet, gibt aber nur im ausgesprochenen Gerstenboden bedeutende Erträge, hat härteres Stroh, drischt sich schwerer und muß beim Malzen auch von der gemeinen G. getrennt werden. Sie wird deshalb nicht sehr häufig angebaut. Wahrscheinlich ist dies die Mutterform des H. distichon erectum.

Über Aussaat, Ertrag etc. belehrt die nachstehende Tabelle:

Gerste Aussaat auf 1 Hektar Ertrag von 1 Hektar Keim­fähig­keit Vege­tations­periode 1 Schef­fel wiegt
breit­würfig ge­drillt Körner Stroh
Schef­fel Kilo­gr. Schef­fel Kilo­gr. Schef­fel Kilo­gr. Jahre Wochen Kilo­gr.
Zwei­zeilige 4,7–5,8 153–192 4,3–5,4 137–170 43–069 1566–2740 2 16–18 31,85
Vier­zeilige 5,4–6,5 157–192 4,7–5,8 141–170 34–060 1175–2350 2 12–14 29,12
Winter­gerste 4,7–5,8 137–168 4,3–5,4 125–157 69–103 1958–2937 2 40–44 29,12

[191] Die gemeine G. leidet viel vom Brande; der Engerling und der Drahtwurm beschädigen die Wurzel, so daß der ganze Stock vergilbt; unter der Blattscheide saugt die mennigrote Larve des Getreideschänders oder eine der Chlorops-Larven; an der Spindel oder an den Blütenstielen nistet sich die grüne oder rötlichbraune, mit schwarzen Röhren und gelbem Schwänzchen versehene Getreideblattlaus und zwischen den Blütenschuppen die weiße Made der Fritfliege ein.

Die G. enthält im wesentlichen dieselben Bestandteile wie der Weizen; doch kann das Stärkemehl derselben nicht, wie beim Weizen, durch Auskneten des Mehls gewonnen werden. G. enthält in 100 Teilen:

  Schot­tische Je­rusa­lemer Win­ter­gerste nach Payen nach Oudemans nach Lermer
  wasser­frei wasser­frei
Eiweißstoffe 12,72 11,97 14,69 11,22 9,7 11,8 16,25
Zellstoff 38,57 34,52 35,13 4,11 7,7 9,4 7,10
Stärkemehl 33,28 34,41 31,80 57,49 53,8 65,7 63,43
Dextrin bei Zellstoff berechnet 8,66 4,5 5,5 6,63
Fett 2,39 2,1 2,5 3,08
Asche 2,72 2,31 4,58 2,68 2,5 3,1 3,51

Die Asche enthält besonders Phosphorsäure, Kieselsäure, Kali und Magnesia. Die quantitative Zusammensetzung schwankt nach Art, Varietät, Bodenbeschaffenheit und Klima. Die Eiweißstoffe (Kleberstoffe) der G. bestehen aus Glutenkasein, Glutenfibrin, Mucedin und Eiweiß. Früher glaubte man, die G. enthalte ein Stärkemehl, welches viel schwieriger löslich sei als das des Weizens, und nannte es Hordein; später fand man aber, daß dies Hordein ein mit Zellstoff verunreinigtes Stärkemehl ist, und daß das reine Stärkemehl der G. mit dem des Weizens vollkommen übereinstimmt. Die G. ist ein Hauptnahrungsmittel in Sibirien, Norwegen, Schottland und Irland; bei uns dient sie besonders zur Bierbereitung und wird zu diesem Zweck teilweise in Malz umgewandelt (s. Bier); aus dem Malz bereitet man das Malzextrakt. Die rohe G. wird auch zur Bereitung von Gerstenwasser benutzt; geschält liefert sie die Perlengerste und die Graupen (s. d.). Das früher offizinelle präparierte Gerstenmehl (farina hordei praeparata) wird durch 30stündiges Erhitzen von zusammengedrücktem Gerstenmehl in einem verschlossenen zinnernen Gefäß im Wasserbad bereitet. Es ist rötlichgelb, enthält lösliche Stärke, Stärkegummi und Dextrin und ist dadurch leichter verdaulich geworden. Es wird bisweilen noch für Rekonvaleszenten und Brustleidende angewandt, aber besser durch Malz (s. d.) und Malzextrakt ersetzt. Das Gerstenwasser wird erhalten durch Kochen von 1/2–1 Teil ausgelesener und gewaschener G. mit 12 Teilen Wasser, bis die G. aufspringt, worauf man durchseiht und Zucker und Zitronensaft oder Kremortartari[WS 1] oder Himbeeressig hinzufügt. Es ist ein kühlendes, einhüllendes und durstlöschendes Getränk für fiebernde Kranke, bei Ruhren, Heiserkeit u. dgl. – Die Heimat der G. ist nicht mit Sicherheit anzugeben. H. vulgare soll noch jetzt zwischen Euphrat und Tigris wild wachsen. H. distichon fand Meyer wild wachsend zwischen Lenkoran und Baku, Koch im Südosten des Kaukasus und Kotschy in Südpersien. Die G. ist vielleicht die älteste Ackerfrucht. Am längsten bekannt ist die sechszeilige G., welche Ägypter, Juden, Griechen und Inder seit uralter Zeit gebaut haben. Man fand ihre Körner bei ägyptischen Mumien. Nach Europa kam sie über Ägypten, wo noch gegenwärtig die zwei- und die sechszeilige G. angebaut werden. Auch in Griechenland wurden früher alle drei Gerstenarten gebaut; gegenwärtig finden sich daselbst nur noch die gemeine und sechszeilige, welche als Pferdefutter verwendet werden. Die Römer kannten die zwei- und sechszeilige G. Vereint mit dem Hafer hat die G. ihre Herrschaft in Europa bis über den Polarkreis, in Asien und Amerika bis nahe an denselben ausgedehnt. Der Gürtel, wo der Anbau beider Cerealien vorherrschend ist, ist der arktische und in den östlichen Ländern des Kontinents auch der größere Teil des subarktischen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Cremor tartari = gereinigter Weinstein.