Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Euripĭdes“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 918919
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Euripĭdes. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 918–919. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Eurip%C4%ADdes (Version vom 13.01.2023)

[918] Euripĭdes, einer der drei großen Tragiker der Griechen, 480 v. Chr. auf Salamis am Tag der berühmten Seeschlacht geboren, wurde von seinem Vater Mnesarchos, einem Schenkwirt, infolge der falschen Deutung einer Weissagung, der Sohn werde Sieger in Wettkämpfen werden, für die gymnastischen Künste bestimmt, aber früh von seiner Neigung zur Philosophie geführt. Nachdem er sich durch den Umgang mit Anaxagoras und Sokrates, seinem lebenslänglichen Freund, sowie durch den Unterricht der Sophisten Prodikos und Protagoras philosophische und rhetorische Bildung erworben, trat er 455 zum erstenmal mit einer Tetralogie auf, erwarb jedoch den ersten Sieg erst in seinem 43. Jahr und scheint überhaupt nur viermal gesiegt zu haben. Dem öffentlichen Leben scheint er sich gänzlich entzogen zu haben. Seinem Naturell nach war er herb und ungesellig; den Ruf aber der höchsten sittlichen Reinheit haben selbst die Komiker, die ihn sonst wenig schonten, nicht angetastet. Verheiratet war er zweimal, doch nicht glücklich. Die eine Frau mußte er wegen Untreue verstoßen, die andre verließ ihn von selbst. Schon in hohem Alter begab er sich 409 nach Magnesia in Thessalien, wo er als öffentlicher Gast aufgenommen wurde. Von dort folgte er einer Einladung des Königs Archelaos nach Pella in Makedonien; hier starb er (nach wenig beglaubigter Tradition von Hunden zerrissen) 405. Seine eherne Statue wurde später von den Athenern mit denen des Äschylos und Sophokles im Theater aufgestellt. Eine vortreffliche antike Statue des Dichters findet sich im Vatikan zu Rom. Um E., der seit dem Altertum die verschiedenartigste Beurteilung erfahren hat, als Dichter gerecht zu werden, muß man ihn aus seiner Zeit heraus betrachten. In einem welthistorischen Zeitpunkt der hellenischen Geschichte stehend, wo Altes mit Neuem rang und ein unheilbarer Riß durch die Gesellschaft ging, ergriff er die Partei der freien Bewegung als ihr kühnster und offenster Wortführer. Er trat in erklärten Gegensatz zum Glauben, Denken und Stil der Alten; er sagte sich los von der dämonischen Weltbetrachtung und kümmerte sich weder um ideale Schönheit und hergebrachte Kunstregel noch um die Plastik der dichterischen Darstellung, Vorzüge, welche seine Vorgänger Äschylos und Sophokles auszeichnen. Bei E. erscheint das Schicksal nur noch als Zufall; seine Personen sind vom erhabenen Kothurn herabgetreten und zeigen sich als Charaktere des alltäglichen Lebens. Der Chor, bei seinen Vorgängern ein notwendiger Hauptteil des Dramas, ist bei ihm nur noch ein beiläufiger Schmuck und steht in keinem beziehungsvollen Zusammenhang mehr mit den Charakteren und der Handlung des Stückes. Dabei erstickt ein Hang zur Reflexion das tragische Pathos, welches bei ihm der rhetorischen Tendenz weichen muß, und seine Vorliebe für aufklärerische Philosophie thut der Würde des Mythus und der Heldensage Abbruch. Hauptsache ist ihm die Darstellung der Leidenschaft und sein Zweck, neben lehrhafter Tendenz, kein andrer, als mit effektreicher Rührung auf das Gemüt zu wirken. Hierin leistet er denn auch Außerordentliches; ja, er hat dadurch gleichsam den Alten eine ihnen noch unbekannte Welt, das Gemütsleben in seinen innersten Tiefen, aufgeschlossen. Kein Dichter vor ihm hat so ergreifend das Unglück, die Verbannung, den Kampf mit der Not, den Wahnsinn darzustellen vermocht. Besonders gelang ihm die Schilderung weiblicher Charaktere, namentlich nach der schlimmen Seite hin. In Beziehung auf das Technische bemerkt man in seinen Stücken ein Streben nach Überraschungen und scharfen Gegensätzen, wie er auch bei der Aufführung viel auf das Äußerliche hielt und sich der Maschinen mehr als ein andrer Dramatiker bediente. – Die Zahl der von E. verfaßten Dramen wird auf 75, 78, ja auf 92 angegeben. Erhalten sind außer zahlreichen Fragmenten das Satyrspiel „Kyklops“ und 18 Tragödien, von denen jedoch der „Rhesos“ sicher unecht ist. Von den übrigen zeigen die dramaturgische Kunst des Dichters in ihrer vollkommensten Form: „Medea“, 431 aufgeführt (hrsg. von Elmsley, Oxf. 1818 und Leipz. 1822; erklärt von Schöne, das. 1853; Wecklein, das. 1874); „Hippolytos“, 428 aufgeführt und mit dem ersten Preis ausgezeichnet (hrsg. von Valckenaer, Leid. 1768, Leipz. 1823; Monk, Canterb. 1811, Leipz. 1823; Barthold, Berl. 1880), und „die Bakchen“, erst nach E.’ Tod aufgeführt (hrsg. von Elmsley, Oxf. 1821, Leipz. 1822; Schöne, 2. Aufl., Berl. 1858; Wecklein, das. 1874). Zu den vorzüglichern gehören ferner: die nach dem Chor benannten „Phönissen“ (Tod des Eteokles und Polyneikes; hrsg. von Valckenaer, Franeker 1755, zuletzt Leipz. 1824, 2 Bde.; Geel, Leid. 1846; Kinkel, Leipz. 1871); „Ion“, des Dichters vollkommenstes Intrigenstück (hrsg. von Herwerden, Utr. 1875); „Iphigenia in Aulis“, gleichfalls erst nach E.’ Tod aufgeführt, und „Iphigenia in Taurien“ (beide [919] hrsg. von Markland, Lond. 1771 und 1811; letztere von Schöne, 3. Aufl. von Köchly, Berl. 1872, und Wecklein, Leipz. 1876). Die übrigen sind: „Hekabe“, „Orestes“, eins der schwächsten Stücke, „Alkestis“, an Stelle eines Satyrdramas aufgeführt, „Andromache“, „Die Schutzflehenden“, „Die Troerinnen“, „Die Herakliden“, „Helena“, „Der rasende Herakles“ und „Elektra“, das schwächste Drama des Dichters. Neuere Gesamtausgaben: von Musgrave (Oxf. 1778, wiederholt Leipz. 1819–21), Matthiä (das. 1813–37, 10 Bde.), Boissonade (Par. 1825 bis 1827, 5 Bde.), Fix (das. 1844), Kirchhoff (Berl. 1855, 2 Bde.), Witzschel (Leipz. 1855, 3 Bde.), Nauck (3. Aufl., das. 1871, 3 Bde.), G. Dindorf (zuletzt das. 1869), Paley (2. Aufl., Lond. 1873). Unvollendet sind die Ausgaben von Porson („Hekabe“, „Phönissen“, „Medea“, „Orestes“, Cambr. 1797–1801, 2 Bde.; Abdruck von Schäfer, Leipz. 1807, zuletzt 1851), G. Hermann (8 Stücke, das. 1831–40), Pflug und Klotz (3 Bde., 11 Stücke, zum Teil in neuer Ausg. von Wecklein, das. 1840–67), Prinz („Medea“, „Alkestis“, „Hekabe“, das. 1878–83). Die Scholien zu E. gab W. Dindorf (Oxf. 1863) heraus, der auch eine Auswahl der Anmerkungen früherer Bearbeiter (das. 1839–40) veröffentlichte. Neuere deutsche Übersetzungen lieferten Minckwitz und Binder (neue Ausg., Stuttg. 1857 ff., 19 Bdchn.), Donner (3. Aufl., Leipz. 1876, 3 Bde.), Ludwig (Stuttg. 1835–53, 16 Bdchn.), Hartung (mit Originaltext, Leipz. 1848–1853, 19 Bdchn.), Fritze und Kock (neue Ausg., Berl. 1869–70, 3 Bde.), Mähly (Auswahl, Leipz. 1881), Bruch (Auswahl, Minden 1882). Vgl. Patin, Études sur Euripide (6. Aufl., Par. 1883, 2 Bde.); Kinkel, E. und die bildende Kunst (Leipz. 1872); Arnoldt, Die chorische Technik des E. (Halle 1877).