Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Esthland“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 870872
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Esthland. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 870–872. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Esthland (Version vom 10.10.2022)

[870] Esthland (nach der im Land üblichen Schreibweise Ehstland, neuerdings Estland, lat. Estonia, von den Esthen Wiroma, „Grenzland“, auch Eesti Maa oder Meie Maa, „unser Land“, von den Letten Iggaunu Semme, „Land der Vertriebenen“, genannt), die nördlichste der drei baltischen oder Ostseeprovinzen Rußlands (s. Karte „Livland, E. etc.“), liegt mit Einschluß der dazu gehörigen Inseln (Dagö, Worms, Nuckö etc.) zwischen 58°19′ u. 59°49′ nördl. Br. und zwischen 22°2′ und 28°12′ östl. L. v. Gr., grenzt im N. an den Finnischen Meerbusen, im O. an das Gouvernement St. Petersburg (durch die Narowa von demselben geschieden), im S. an Livland und den Peipussee und im W. an die Ostsee und umfaßt einen Flächenraum von 20,247 qkm (367,7 QM.). Die Ausdehnung der Wassergrenzen beträgt 838 km. E. bildet einen sich von W. nach O. hinziehenden flachen, etwas gewellten Landrücken, der sich von der Meeresküste im W. allmählich erhebt, eine durchschnittliche Höhe von 60–120 m erreicht und nach O. wieder zur Narowa hinabsinkt. Nach N. senkt sich das Land von der Mitte mehr terrassenförmig und fällt dann, bisweilen schroff, zur Küste ab. Nach S. gegen Livland ist die Senkung eine sehr allmähliche. Der höchste Punkt Esthlands ist im NO. der Emmo Mäggi („Mutterberg“, 154 m). Die flachen, muldenförmigen Vertiefungen der großen Flußbetten verleihen dem Land mehrfach ein etwas gewelltes Ansehen. Ein ziemlich ansehnlicher Teil der Oberfläche ist mit Wald und Buschwerk bedeckt, oder es finden sich ausgedehnte Moräste, die häufig auch mit Wald bestanden sind. Zahlreiche Flüsse und Bäche durchfließen das Land; sie haben meist einen trägen Lauf und sumpfige, schilfige Ufer. Selten schneiden die Flüsse tiefere Betten ein und bilden dann schöne, steile, bisweilen belaubte Felswände. Nur der Grenzfluß Narowa ist vom Peipussee bis zu seinem schönen Fall in der Nähe von Narwa schiffbar. Bemerkenswerte Flüsse oder Bäche sind: der Kasargenfluß, der Kegelsche und Fallsche Bach mit einem Wasserfall von 6 m Höhe unweit seiner Mündung, der Brigittenbach, der Jeglechtsche oder Jaggowalsche Bach mit einem schönen, 7 m hohen Wasserfall unweit seiner Mündung und der Witna oder Loxa, die alle mit Ausnahme des ersten, welcher von O. nach W. in die Ostsee geht, in nördlicher Richtung in den Finnischen Meerbusen strömen. Eine große Anzahl kleiner Landseen (man zählt deren über 200) ist über den ganzen esthländischen Landrücken verteilt, sie finden sich öfters inmitten der Moore. Eine Unzahl größerer und kleinerer erratischer Granitblöcke ist über das ganze Land hingestreut. In geognostischer Beziehung bestehen die Küsten des Finnischen Meerbusens hauptsächlich aus einem dichten Kalkstein, der sich durch die vielen wohlerhaltenen Trilobiten- und Orthoceratitenversteinerungen, welche er enthält, auszeichnet und in ziemlich horizontalen Lagen von 10 bis 20 m Mächtigkeit vorkommt. Er liegt auf einem feinkörnigen Sandstein, der sich an der Küste bis höchstens 40 m über das Meer erhebt und zu seinem Liegenden wiederum einen gräulichgrünen Thon hat, der zunächst über dem Meeresspiegel erscheint. Der Sandstein ist versteinerungsleer, jedoch findet sich in ihm Bernstein eingeschlossen. Die untern Schichten des Kalksteins enthalten häufig kleine Körner von Grünerde, wie der Grünstein der Kreideformation, und werden von dem unter ihnen liegenden Sandstein durch dünne Lagen von Grünerde, durch bituminösen Thonschiefer, Eisenkies und durch Muschelfragmente getrennt, welche Zwischenschichten im ganzen [871] eine Mächtigkeit von etwa 1,7 m erreichen. Nach L. v. Buch stimmt der esthländische Kalkstein durch seine Versteinerungen vollkommen mit dem von Gotland überein und muß, wie dieser, zur Übergangsformation gerechnet werden. Das Klima ist im Innern des Landes infolge der Sümpfe und Moräste unfreundlich und sehr veränderlich, im Sommer oft drückend heiß und im Winter kalt. Auf den Inseln und an der Küste mildert die See die schroffen Übergänge. Westwinde herrschen vor und sind oft sehr heftig. In Reval beträgt die mittlere Jahrestemperatur +4,1° C., wovon sich auf den Winter −6,1, auf den Frühling +1,4, auf den Sommer +15,6 und auf den Herbst +5,6° verteilen. Die Zahl der Regen- und Schneetage beträgt jährlich 129–130, die Menge des Regens und der sonstigen atmosphärischen Niederschläge = 478 mm.

Die Bevölkerung (1882: 379,875 Seelen, d. h. 19 auf 1 qkm) bekennt sich größtenteils zur protestantischen Religion, nur 4 Proz. gehören der griechisch- und der römisch-katholischen Kirche an. Die Zahl der Lebendgebornen betrug 1884: 11,704, die der Gestorbenen 8453, die der geschlossenen Ehen 2741. Die städtische Bevölkerung repräsentiert gegen 16 Proz. der Gesamtbevölkerung. Zwischen Esthen und Esthländern unterscheidet man. Unter den erstern versteht man die eingeborne ländliche Bevölkerung, der letztere Ausdruck wird vorzugsweise für die im Land geborne deutsche Bevölkerung gebraucht. Die Esthen reden der großen Mehrzahl nach ihre eigne Sprache (s. Esthen), die Esthländer sprechen deutsch. Deutsch ist die Sprache, in welcher alle alten Gesetze abgefaßt sind, sowie die Umgangssprache der Gebildeten und die Sprache des höhern Unterrichts. Erst in der neuesten Zeit fing auch das Russische an, sich neben dem Deutschen Platz zu machen. Natürlich wird auch deutsch gepredigt, nur für die Bauern esthnisch. Auf einigen Inseln und im Küstengebiet wohnen ca. 5000 schwedische Bauern, denen schwedisch gepredigt wird.

Der Boden ist nicht sehr ergiebig, liefert jedoch infolge einer rationellen Bewirtschaftung Getreide über Bedarf. Der Ackerbau bildet die Hauptbeschäftigung der Einwohner. Die Hauptprodukte sind Roggen, Hafer, Gerste und Kartoffeln, weniger Weizen, Buchweizen, Hanf und Flachs. Der durchschnittliche Reinertrag der Kornproduktion wird auf mehr als 2 Mill. hl geschätzt (1884: 2,078,769 hl Getreide, 50,000 hl Erbsen und 3,396,000 hl Kartoffeln). Man baut außerdem viel Gemüse aller Art; dagegen vernachlässigt der Bauer die Obstbaumzucht und begnügt sich mit den wilden Beeren, die er überall in großem Überfluß findet. Die Waldungen bestehen großenteils aus Nadelhölzern; doch gibt es auch viele Birken, Erlen und Weiden. Man findet in ihnen Wölfe, Bären, Füchse, Hasen, bisweilen auch Elentiere. Die Viehzucht ist bedeutend; 1873: 63,620 Pferde (meist von der kleinen, aber ungemein kräftigen und gutartigen esthnischen Rasse), 189,672 Stück Rindvieh, 241,236 Schafe, 52,000 Schweine und 1566 Ziegen. Von der Gesamtfläche des platten Landes kamen 1873 auf das Ackerland 16,58, auf das Wiesenland 25,47, auf das Weideland 16,28, auf die Holzung 18,98 und auf die Moräste etc. 22,68 Proz. An der Küste wird viel Fischerei getrieben, besonders Strömlingsfang. Die Bauern weben Leinwand und gute Wollzeuge zur Kleidung, und auf den Inseln baut man Barken. Abgesehen von den Mühlen, zählte man 1884: 202 Fabriken und diesen ähnliche gewerbliche Etablissements mit gegen 7000 Arbeitern und einem Produktionswert von 28 Mill. Rubel. Bedeutend ist die Branntweinbrennerei, mit der sich 157 Fabriken beschäftigen, die 158 Mill. Grad Spiritus erzeugten. Die größte Fabrik ist die Baumwollspinnerei und Weberei von Kröhnholm, deren Produktionswert 9 Mill. Rubel beträgt, und die 4253 Arbeiter beschäftigt. Zu den übrigen Fabriken gehören eine Tuchfabrik, 6 Lederfabriken, eine Papierfabrik, eine Lackfabrik, eine Zementfabrik, 5 Eisengießereien und mechanische Werkstätten, 2 Betriebe zur Anfertigung von Marmorsachen, 2 Glashütten, 2 Zündholzfabriken, 3 Dampfsägemühlen etc. Außerdem gibt es etwa 46 Bierbrauereien, 29 Metbrauereien, 6 Destillaturen.

Der Handel beschränkt sich größtenteils auf die Hafenplätze Reval, Baltischport, Kunda und Hapsal und leidet durch den Mangel an schiffbaren Flüssen, hat aber seit Erbauung der Baltischen Eisenbahn (1870), welche von Baltischport über Reval direkt nach St. Petersburg und vermittelst einer Zweigbahn nach Moskau führt, infolge des Umstandes, daß die Häfen von Reval und Baltischport im Winter sehr viel länger vom Eis frei sind als Kronstadt, einen kolossalen Aufschwung genommen. Der Wert der Einfuhr zur See über Reval bezifferte sich 1884 auf 69,4 Mill. Rubel, über Baltischport auf 367,274 Rub.; der Wert der Ausfuhr betrug über Reval 19,4 Mill. Rub., aus Baltischport wurde 1884 nichts exportiert (1883 für 1 Mill. Rub.). Die Einfuhr besteht in roher Baumwolle, Maschinen und Maschinenteilen, Manufakturwaren, Wolle, Südfrüchten, Heringen, Salz, Steinkohlen, Wein etc.; die Ausfuhr in Spiritus, Korn, Flachs. An Unterrichtsanstalten hat E. (1. Jan. 1878) 3 klassische Gymnasien, 29 Real-, Bürger-, Kreis- und Töchterschulen, 22 städtische Elementarschulen und 543 Landvolksschulen, darunter 12 Mittel-, sogen. Parochialschulen. Es kommt auf dem Land eine Volksschule auf 575 bäuerliche Einwohner. Die ländlichen Schulen wurden besucht von 21,961 Kindern beiderlei Geschlechts, es kam also ein Schulkind auf ca. 14 Einwohner. Zur Heranbildung von Lehrern für diese Volksschulen wurden von der Ritter- und Landschaft zwei Seminare unterhalten. E. hat seinen besondern Landtag, auf welchem aber nur die Gutsbesitzer erscheinen, und welcher alle drei Jahre zusammentritt. Die Verwaltung ist wie im übrigen Rußland eingerichtet; für die Rechtspflege ist in oberster Instanz der Senat in St. Petersburg, in der zweiten Instanz ein Oberlandesgericht kompetent. E. zerfällt in die vier Kreise: Harrien, Jerwen, die Wiek und Wierland. In der Provinz selbst bedient man sich noch der alten Benennungen der sogen. Hakendistrikte und teilt sie in zwölf ein, welche die Namen Ost-, Süd- und Westharrien, Allentacken, Land- und Strandwierland, Waiwara, Ost- und Südjerwen, Land-, Strand- und Insularwiek führen. Die Hauptstadt ist Reval. Wappen: drei liegende hellblaue Löwen im goldenen Feld.

[Geschichte.] In der ältesten Zeit lebten die Esthen zwischen Düna und Newa von Fischfang, Viehzucht, Ackerbau, daneben auch von Jagd und Seeraub. Lange widerstanden sie dem Christentum, das seit dem 13. Jahrh. unter ihnen Verbreitung fand infolge des von dem dänischen König Waldemar II. 1219 unternommenen Kreuzzugs, wodurch E. an Dänemark kam; um jene Zeit wurde auch das Bistum Reval gestiftet. Da das Land ein unsicherer Besitz war und stete Streitigkeiten auch mit den Schwertrittern, die darauf Anspruch machten, stattfanden, so verkaufte Waldemar III. 1346 das Land für 19,000 Mark Silber an den Deutschen Orden, und es bildete nun einen Teil Livlands. Die Esthen sanken besonders infolge wiederholter Aufstände [872] gegen ihre Herren, die Ritter und Priester, zu Leibeignen herab. Bei der zunehmenden Kraftlosigkeit des Deutschen Ordens huldigten die inzwischen zur Reformation übergetretenen esthnischen Städte und der Adel, welche von den Deutschen Rittern schlecht gegen die Russen verteidigt wurden, 1561 freiwillig der Krone Schweden. Dennoch dauerten die verheerenden Kriege mit Rußland und Polen während eines Zeitraums von 60 Jahren mit ihrem schrecklichen Gefolge von schweren Seuchen, Hungersnot und Pest fast ununterbrochen fort, bis endlich Gustav Adolf 1621 die schwedische Herrschaft auf lange Zeit befestigte und bessere Zustände herzustellen suchte. Die Kriminaljustiz wurde den Händen der Herren entzogen und den Gerichten übergeben; es ward den Bauern selbst Anteil an der Rechtspflege gegönnt, und für jedes Gebiet wurden einige Älteste als Rechtsfinder und Gerichtsbeisitzer erkoren. Bei Errichtung des Gymnasiums und der Universität Dorpat (1630) wurde auf die Esthen Rücksicht genommen, indem diese freien Zutritt zu diesen Bildungsanstalten erhielten und sogar Lehrer des Esthnischen sowie des Lettischen angestellt wurden. Unter Karl XI. wurde die Aufhebung der Leibeigenschaft vorbereitet durch Feststellung der „Wakkenbücher“, worin durch eine 1698 im ganzen Land herumreisende Kommission alle Abgaben und Leistungen der Bauern abgeschätzt, bestimmt und aufgeschrieben wurden. Allein die Kriege, in welche sein Nachfolger Karl XII. den ganzen Norden und namentlich die Ostseeprovinzen stürzte, sowie die vielfachen Verwüstungen, denen das Land während dieser Kriege preisgegeben war, verhinderten die weitere Ausführung, und nachdem die Stadt Reval und die esthländische Ritterschaft 29. Sept. 1710 mit dem Zaren Peter d. Gr. von Rußland kapituliert hatten, und infolgedessen E. im Nystader Frieden von 1721 mit dem russischen Reich vereinigt worden war, ward jenes Werk fast bis auf die letzte Spur vertilgt. Die nachfolgenden russischen Regierungen schenkten dem Schicksal der Bauern keine Teilnahme, so daß allmählich alles wieder auf den alten Fuß kam. Die Leistungen der Bauern stiegen wieder in unbestimmten Verhältnissen, und die Gutsherrschaften erhielten wieder die Zivil- und Kriminalgerichtsbarkeit. Die allgemeine Erschöpfung nach den großen nordischen Kriegen, die Verarmung und Entvölkerung, die 1709 wütende Pest und andre ungünstige Umstände trugen das Ihrige dazu bei, die Bevölkerung gegen ihre Leiden abzustumpfen. Erst mit der Regierung Katharinas II. wurde 1764 die Bauernfrage wieder angeregt, aber nicht zum Ziel geführt. Durch einen Ukas vom 3. Juli 1783 wurde E. zu einer Statthalterschaft eingerichtet und in fünf Distrikte geteilt; ein andrer Ukas vom 3. Dez. 1784 änderte die Distrikte in sechs Kreise um, und unter Kaiser Nikolaus wurde die dermalige Einteilung (s. oben) eingeführt. Über die jetzige Stellung der esthnischen Bauern s. Esthen, und über die Russifikationsversuche s. Livland. Vgl. Possart, Statistik und Geographie des Gouvernements E. (Stuttg. 1846); Bornhaupt, Entwurf einer geographisch-statistisch-historischen Beschreibung Liv-, Esth- und Kurlands (Riga 1855); P. v. Köppen, Die Bewohner Esthlands (Petersb. 1847); Rathlef, Skizze der orographischen und hydrographischen Verhältnisse von Livland, E. und Kurland (Reval 1852); F. Müller, Beiträge zur Orographie und Hydrographie von E. (Petersb. 1869–71, 2 Bde.); P. Jordan, Beiträge zur Statistik des Gouvernements E. (Reval 1867–74, 3 Bde.); Willigerod, Geschichte Esthlands (Leipz. 1817); Kruse, Urgeschichte des esthnischen Volksstammes (Mosk. 1846); Paucker, Die Regenten, Oberbefehlshaber und Oberbeamten Esthlands (Reval 1855); Bunge, Das Herzogtum E. unter den Königen von Dänemark (Gotha 1877); Rutenberg, Geschichte der Ostseeprovinzen (Leipz. 1859–61, 2 Bde.), und Litteratur bei Esthen.