Kurze Artikel in der Fackel Heft 1 (Kraus)

Textdaten
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Autor: Karl Kraus
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Titel: Kurze Artikel in der Fackel Heft 1
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aus: Die Fackel, Nr. 1, I. Jahr, S. 8–12
Herausgeber: Karl Kraus
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Erscheinungsdatum: Anfang April 1899
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Erscheinungsort: Wien
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Austrian Academy Corpus: AAC-FACKEL Online Version: »Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936«
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[8]  »Die Fackel« erscheint bloß dreimal im Monat. So erspart sie sich den bekannten Zeitungsstempel und dem Finanzminister Kaizl ein schamvolles Erröthen. Herrn Kaizl hat zwar die gepresste Luft eines Cabinets, das näher dem Hofe als der Straße zu gelegen ist, ein wenig den Kopf verwirrt, sonst aber ist er gewiss mit den meisten der in diesem Blatte vertretenen Anschauungen einverstanden. Drum wäre ihm der Anblick einer anständigen, auf sich selbst gestellten und nur durch ihre Leser subventionierten Zeitung immerhin peinlich gewesen, die mit der Fußfessel der Stempelpflicht den ohnehin beschwerlichen Weg zum Interesse der österreichischen Öffentlichkeit antreten soll. So lasse ich denn, Herrn Kaizl zuliebe, die »Fackel« nicht, wie ursprünglich geplant, allwöchentlich erscheinen, versage dem Staate die sonst fällige Zahlung einer jährlichen Steuer von mehr als tausend Gulden und glaube zu diesem Entschlusse die Zustimmung des Finanzministers in vollem Maße zu besitzen. Denn trotz dem Ehrgeiz des Emporkömmlings und ungeachtet der Erniedrigungen, die ein Portefeuille in Österreich auferlegt, halte ich ihn noch immer eher für einen »modernen und vernünftigen Mann«, als z. B. Herrn Heinrich Kanner, der dies seit einem Jahr an jedem Samstag bestreitet.

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Der Wiener, der politische Entmündigung nie pathetisch nahm, hat sich auch neulich wieder ohne ein Gefühl der Beschämung aus dem sich hinter ihm schließenden Parlamente entfernt und seine Aufmerksamkeit einem draußen soeben gestürzten Comfortabelrosse zugewendet. Vielleicht wird er bald vor einem steckengebliebenen Automobil verweilen, aber — verweilen wird er .... Erst wenn auch die Theater geschlossen sind, beginnt für ihn der wahre Absolutismus. Einst bedurfte es noch der künstlichen Ablenkung, wenn der Gesichtskreis [9] des Bürgers mit allerlei politischem Spectakel erfüllt war, und dem kundigen Blicke des Staatsmanns blieb es öfter anheimgestellt, die geeignete Zugkraft für ein Theater zu finden. Wo ehedem erhöhter Kunstgenuß das erwünschte Zerstreuungswerk besorgte, reicht heute der nächstbeste Klatsch und eine einfache Verstärkung des theatralischen Nachrichtendienstes aus, um den Leser über die Weltlage zu beruhigen. Wird in Österreich ein Verfassungsbruch begangen, so gähnt die Bevölkerung. Wie soll nun diesem Zustand die Presse des Landes sich anpassen? Die N. Fr. Presse, ihrer Pflichten als großes Oppositionsblatt bewusst, hat am Tage, da die erste Verordnung auf Grund des § 14 ins Land gieng, in einem längeren Artikel auf die Geschenke hingewiesen, die die Mitglieder des Josefstädter Theaters anlässlich der 100. Aufführung des Vaudevilles »Wie man Männer fesselt« von der Direction erhielten. Sie schrieb wörtlich: »Schon nach dem ersten Acte erdröhnten die Salven des Jubiläumsbeifalls. Der Haupteffect des Abends kam nach dem zweiten Act. Als sich auf den Beifallssturm der Vorhang wieder hob, war die Bühne in einen Blumengarten verwandelt und ganz angefüllt mit Riesenkränzen, Blumenkörben und Bouquets. Auf zwei Tischen waren die Geschenke ausgebreitet, welche die Direction den Darstellern der Hauptrollen widmete. Fräulein Dirkens erhielt ein Füllhorn mit einem Engel aus Gold, Herr Maran einen persischen Teppich und eine Busennadel, Capellmeister Kappeller eine Rauchgarnitur aus Bronze, Dramaturg Eisenschitz, der Übersetzer des Stückes, und Regisseur Groß silberne Schreibtischgarnituren, Frau Pohl-Meiser und Fräulein Moraw silberne Visitkartenkörbe, Herr Tuschl einen Gasluster aus Bronze, Fräulein Sachs ein goldgesticktes Kissen, Herr del Zopp Manschettenknöpfe und Herr Strasny einen silbernen Crayon; sämmtliche Damen vom Chor erhielten silberne Armbänder mit Breloques und die Herren vom Chor silberne Manschettenknöpfe. Die Vertheilung der Geschenke wurde vom Publicum mit Beifall begleitet.« Wenn unsere Blätter Glück haben, fällt die 150. Aufführung von »Wie man Männer fesselt« mit der Octroyierung des ungarischen Ausgleiches zusammen. Dann erst erdröhnen in Österreich die Salven des Jubiläumsbeifalls und — wir erfahren, dass Herr Tuschl unter dem Beifalle des Publicums abermals einen Gasluster bekommen hat.

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Es verlautet mit jedem Tage bestimmter, die Regierung Thun sei nicht geneigt, das Lueger’sche Project einer Gemeindewahlreform der Sanction zu empfehlen. Am Ende haben also die Liberalen in der letzten Zeit nicht ohne Erfolg regierungsfreundliche Allüren zur Schau getragen. Die N. Fr. Presse verstieg sich sogar zu einem begeisterten Eintreten für die Erhöhung der Officiersgagen und schob auch sonst tapfer den »innerösterreichischen« Oppositionsstandpunkt beiseite, nur um den liberalen Patronen Wiens, »diesem kleinen Häuflein freisinniger und charaktervoller Männer«, wie sie sie öfter kosend zu benennen pflegt, nur um den Noske und Matzenauer den [10] ungeschmälerten Genuß ihres politischen Lebensabends zu sichern. Wenn aber eines für die Regierung bestimmend war, dem Lueger’schen Anschlage, der am Ende auch Herrn Walter Brix um sein Mandat bringen könnte, kein Gehör zu schenken, so mussten es die positiven Argumente sein, die die N. Fr. Presse gegen die Gemeindewahlreform vorbringt. Gleich, als die guten und die üblen Absichten des Bürgermeisters — der gescheite Plan einer Aufhebung der Wahlkörper, verschlechtert durch die Einführung der Sesshaftigkeitsclausel — ruchbar wurden, erhob die N. Fr. Presse laute Klage, dass ja dann nicht weniger als fünf Minister, die Herren Thun, Kaizl, Dipauli, Kast und Jendrzejowicz, der Wahlberechtigung in der Gemeinde Wien beraubt wären. Das ist allerdings eine Perspective, vor der jedem Liberalen grauen muss. Es ist ja wirklich nicht daran zu denken, dass die Ministerschaft dieser fünf Herren die von Lueger dictierten fünf Jahre erreichen wird, und gewiss mag es eher noch ein einfacher Arbeiter, den die Suche nach dem Broterwerb dahin und dorthin verschlägt, zur Sesshaftigkeit in Wien gebracht haben, als Minister, die ein unstätes Nomadenleben führen, das sie von der zweiten Rangsclasse zur dritten und durch die Statthalterposten aller möglichen österreichischen Landeshauptstädte treibt. So wird den Liberalen, die das Schicksal der »fluctuierenden Minister« dauert, wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Einführung eines neuen und unwiderruflich letzten Wahlkörpers für Regierende zu verlangen. Dass sie sich nicht entschließen können, für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht einzutreten, selbst wenn man ihnen garantierte, dass auch Minister einbezogen seien — wer sollte es ihnen verübeln? Jedenfalls mag man sich vorstellen, wie, aufgereizt durch die beweglichen Klagen der N. Fr. Presse, die Herren Thun, Kaizl, Dipauli, Kast und Jendrzejowicz in ihren »Gummiradlern« vor das Rathhaus ziehen, den Wagenschlag öffnen und im Chor: »Heraus mit dem allgemeinen Wahlrecht!« brüllen, während die fünf Kutscher, zufrieden im Privilegienbesitze, vergnüglich schmunzelnde Gesichter zeigen. Und die Minister Ruber, Wittek, Bylandt-Rheidt und Welsersheimb, langgediente Bureaukraten, sitzen daheim und freuen sich gleichfalls, dass sie in Wien wahlberechtigt sind … Gewiss, der Widerstand der Liberalen gegen die Gemeindewahlreform entbehrt nicht der verzweifelten Komik. Wenn aber ein Argument die Lueger’sche Absicht rechtzeitig vereiteln kann, so ist es die Entdeckung der N. Fr. Presse. Die Regierung kann eine Wahlreform, die sie selbst entrechtet, nicht zur Sanction vorlegen.

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     —r— Als vor ein paar Wochen der Run auf die galizische Sparkasse entfesselt wurde, da wunderte man sich vielfach über die polnische Römertugend, die selbst die Gefahr eines Bankerotts nicht scheue, um financielle Unlauterkeiten in den herrschenden Kreisen aufzudecken. Schärfer Blickende wunderten sich allerdings nicht, weil sie den feinen Schachzug der Schlachta durchschauten, der ein [11] paar einflussreiche Gegner der Badeni- und Abrahamowicz-Clique in der Öffentlichkeit unmöglich machen und jene liberal schillernde Gruppe des Polenclubs compromittieren sollte, die seit Langem schon zum Ausgleich mit den Deutschen drängt. Aber mit der Aufdeckung galizischer Missstände darf man eben nicht spielen. Die Sache scheint nun im Rollen zu sein. Seither kam die galizische Creditbank daran; andere Enthüllungen stehen wohl bevor. Und die Schlachta steht da, wie der Zauberlehrling von Goethe; »die sie rief, die Geister, wird sie nun nicht los«.

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Aus dem Parlament verjagt, hat sich die politische Discussion in den unweiten Gerichtssaal geflüchtet. Die letzten Monate haben kaum ein Urtheil gebracht, das nicht zunächst vom Parteistandpunkt betrachtet worden wäre. Alle vierzehn Tage vollzieht sich jetzt ein anmuthiger Wechsel in der Auffassung der Geschworenengerichte, die förmlich als Spielball zwischen den feindlichen Lagern hin- und hergeworfen werden. Ist ein Antisemit verurtheilt worden, so suchen seine Gesinnungsgenossen Trost in dem Gedanken, dass das wahre Recht ja doch nicht von Männern, die »zufällig Geschworene« geworden sind, erkannt werden könne, während die Liberalen sich pünktlich als Hüter einer »freiheitlichen Errungenschaft« geberden und die »heilige Institution des Volksgerichtes« nicht anzutasten erlauben. Wird daraufhin einer von den ihren gefasst, dann versäumen sie nicht, verächtlich auf die »Hernalser Greisler« herabzublicken, die zur Rechtsprechung ja doch nicht berufen seien und der innerstädtischen Intelligenz niemals imponieren können; die Antisemiten aber beginnen als Orakel zu preisen, was sonst nur der »Zufall«, blind eben wie die Gerechtigkeit, erschaffen hat.

So werden die Geschworenen heute von dieser, morgen von jener Seite als die geschworenen Feinde einer unparteiischen Justiz declariert. Herr Otto Frischauer sollte sich endlich beruhigen. Er hat durch seinen widerlichen Kampf um ein Chambre separée-Abenteuer die politische Atmosphäre hinreichend verpestet, er hat es bewirkt, dass sich die Parteiblätter durch Monate fast mit nichts anderem ernsthaft beschäftigt haben, als mit den nächtlichen Extravaganzen einiger Spießer, und er ist zur endlichen Erforschung der leuchtenden Wahrheit nicht einmal davor zurückgeschreckt, ein Heer von Kupplerinnen und in ihrem Privatleben öffentlicher Damen zu mobilisieren. Nur hätte er sich nicht alles für die Gerichtsverhandlung aufsparen, vielmehr schon vorher öfter den Lesern seines Blattes erzählen sollen: Gestern hatte einer unserer Mitarbeiter die Ehre, von einem Zuhälter empfangen zu werden; folgt ein längeres Interview... Herr Otto Frischauer hat die Sache seiner Gegner gestärkt, und Dank seinem unermüdlichen Bemühen umstrahlt heute die massigen Häupter unserer klobigsten Antisemitenführer eine Gloriole politischen Märtyrerthums. Er hat einen armen Reporter zuerst für seine Zwecke zum gemeinsten Spionagedienst gezwungen und später als sein »Vertheidiger« eine [12] halbjährige Haft von ihm nicht abzuwenden vermocht. Herr Otto Frischauer hat genug zur »Belebung« des politischen Interesses gethan. Er ziehe sich zurück. Das Publicum weiß jetzt schon, dass auf der Stufenleiter journalistischer Vornehmheit zwischen seinem »Wiener Tagblatt« und dem »Deutschen Volksblatt« nichts als eine kleine Meinungsverschiedenheit liegt.

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Die Verworrenheit unserer politischen Zustände hat einen großen Vortheil; sie erleichtert die Beurtheilung der führenden Männer. Unter minder schwierigen Umständen konnte sich ein Minister jahrelang der Feststellung seines Wertes entziehen. Selbst der Geschichte fehlen die Anhaltspunkte zur Beurtheilung einzelner Staatsmänner. Aber dieses historische Dämmerlicht ist vorüber. Heute ist die Beleuchtung so grell, dass man die Umrisse politischer Unfähigkeit weithin erkennt. Unsere Zeit richtet jeden Minister binnen ein paar Tagen — standrechtlich. Auch auf die Abstufungen der Mittelmäßigkeit lässt sie sich nicht mehr ein.

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Schwierigkeiten gibt es nur für den, der sie nicht überblickt. Der Mann, an dessen Intelligenz gemessen, die Conflicte unserer Politik klein erscheinen würden, ist aber noch nicht gefunden. Hat die individualistische Auffassung in der Geschichte Unrecht, die den historischen Verwicklungen nur die Aufgabe zuerkennt, die Persönlichkeit zu zeitigen, die ihrer Herr wird?

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