Junge, laß Dich nicht verblüffen!

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Titel: Junge, laß Dich nicht verblüffen!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 200–202
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[200]
Junge, laß Dich nicht verblüffen!
Eine Scene aus Seume’s Leben.

Das Dörfchen Hohenstädt, eine Viertelstunde von der Stadt Grimma auf anmuthiger Höhe gelegen, schaute in freundlichster Nachmittagbeleuchtung auf dies grüne Thal herab, wo die Mulde wie ein sanftblaues Band an den Waldbergen dahin ging, als aus einem ziemlich am Eingange des Dorfes gelegenen und von Linden umschatteten Landhause zwei Männer traten und in eine Kirschallee einbogen, welche zwischen grüner Kornflur nach dem nahen Dorfe Böhlen führte.

Der eine der Männer, eine hohe stattliche Gestalt mit klaren, durchdringenden, aber zugleich wohlwollenden Augen, verrieth in seiner Kleidung, die sauber, ohne luxuriös zu sein, den wohlhabenden Mann. Der Begleiter, von mittlerer Größe, mit ernstem, fast düsterem Antlitz, schien weniger Aufmerksamkeit auf sein Aeußeres zu verwenden.

Die beiden Männer waren schweigend eine Zeitlang neben einander hergegangen. Jeder schien mit seinen Gedanken beschäftigt. Endlich blieb der Erstere stehen.

„Wie soll das enden?“ frug er. „Wir sind auf dem besten Wege eine französische Provinz zu werden. Bereits liegen Spanien, Italien, Holland zu den Füßen Frankreichs, und auch bei unsern deutschen Fürsten thäte es Noth, daß sie bei jeder einigermaßen wichtigen Regierungsmaßregel zuvor in Paris anfragten. Was ist aus diesen Franzosen, die wir so lange Zeit nur nach Roßbach und Krefeld beurteilten, geworden? Haben sie gänzlich ihr Wesen geändert?“

Der Begleiter, welcher gleichfalls stehen geblieben war und über die grünen Kornfluren nach den fernen Bergen schaute, erwiderte: „Nein, ihr Wesen haben sie nicht geändert, sie haben blos ihre Verhältnisse umgeschaffen. Die Franzosen sind seit funfzehn Jahren erst zur Nation im höheren Sinne des Worts geworden. Der Franzose, ohne Unterschied, schlägt sich jetzt für ein Vaterland, das ihm lieb geworden, da es ihm und seiner Familie eine gleiche Aussicht auf alle Vortheile vorhält und diese Vortheile wirklich gewährt. Nur nach dem, was er gilt, wird dort der Mann gewürdigt, bei uns wird die Schätzung genommen nach dem, was das Kirchenbuch spricht, der Geldsack des Vaters wiegt, oder das Hofmarschallamt vorschreibt. Für wen soll sich der deutsche Grenadier auf die Batterie oder in die Bajonnete stürzen? Er bleibt sicher, was er ist, und trägt seinen Tornister so fort und erntet kaum ein freundlich Wort von seinem mürrischen Gewalthaber. Er soll dem Tode unverwandt in’s Auge sehen, und zu Hause pflügt sein alter Vater fröhnend die Felder des gnädigen Junker, der nichts thut, nichts zahlt und mit Mißhandlungen vergilt. Der Alte fährt schwitzend die Ernte des Edelmanns ein und muß oft die seine verfaulen lassen; und dafür hat er die jämmerliche Ehre, der einzige Lastträger des Staats zu sein, eine Ehre, die klüglich nicht anerkannt wird. Soll der Soldat deshalb muthig fechten, um dasselbe Glück einst zu genießen? Er soll brav sein, und seine Schwester oder Geliebte muß auf dem Edelhofe zu Zwange dienen, jahrlich für acht Gulden, oft ohne Aussicht, ein Jahr wie das andere ihr Lebenlang; und seine alte Muhme, die kaum das trockene Brod hat, muß ihren zugewogenen Haufen Flachs spinnen; und sein kleiner Bruder muß Botschaft laufen in Frost und Hitze für einen Groschen den Tag. Das nennt man Staat und gute Ordnung und Gerechtigkeit, und fragt noch, woher das öffentliche Unglück kommt.“

Das sonst so farblose Gesicht des Sprechers hatte sich geröthet. Von dem Gegenstande erregt, fuhr er fort:

„Gleiches Recht für Alle ist ein göttlicher Gedanke, vielleicht der schönste, den wir haben. Unsere Feinde sind nur stark durch unsere physische und moralische Schwäche, die unsere Schuld ist. Ueberall gewahrt man unter dem Volke grobe und schmutzige Selbstsucht. Unter unsern Fürsten herrscht Mißtrauen; einer freut sich über das Unglück des andern, wird ohnmächtig durch Trennung, greift unüberlegt nach jedem kleinlichen Vortheil des Moments und bringt endlich sich und die Nation an den Rand des Verderbens. Ein Einziger ist jetzt Dictator von Europa, der vor fünfzehn Jahren nur eben Zutritt in das Vorzimmer dummstolzer Minister hatte. So geht es, wenn Memmen die Sache betreiben, und so geht es, wenn Knaben stehen, wo Männer stehen sollten. Wir sind, wenn wir so fortfahren, in Gefahr, weggewischt zu werden, wie die Sarmaten.“

Während Johann Gottfried Seume diese Anschauungen, die er später in seinen Werken fast wörtlich so niederlegte, seinem Begleiter mittheilte, welcher Niemand anderes als der sehr geachtete und seiner Zeit um Buchhandel und Literatur wohlverdiente Buchhändler Joachim Göschen war, in dessen Landhause zu Hohenstädt Seume oft wochenlang als Gastfreund wohnte, war man im Weiterwandeln an eine Wiesenfläche gelangt, wo ein etwa vierzehnjähriger Knabe eine Kuh im fetten Grase weidete und sich dabei selbst gemüthlich in den hohen Klee gestreckt hatte. Da kamen durch den Hohlweg, der nach der Mulde hinabführte, zwei junge Cavaliere, die bei einer adeligen Familie in Grimma zu Besuch waren und ihre Zeit nicht besser anzuwenden wußten, als ihre Jagdlust zu befriedigen, und, da geschlossene Jagdzeit war, diese Passion an Schwalben und andern harmlosen Vöglein ausließen. Wahrscheinlich war ihnen das Jagdglück heute nicht günstig gewesen, denn sie schienen mißgelaunt und zugleich übermüthig gelaunt, welche mauvais humeur sie glaubten an dem wehrlosen Knaben auslassen zu müssen. Sie hielten sich für unbeobachtet, da die daher kommenden zwei Spaziergänger durch eine Schwarzdornhecke ihnen verdeckt wurden.

„Junge,“ rief der Eine der jungen Edelleute in vornehm näselndem Tone dem Hirtenknaben zu, „augenblicklich steige auf Deine Kuh und reite sie uns vor.“

Der Knabe war aufgesprungen und erwiderte: „Das darf ich nicht, mein Vater hat mir verboten, auf der Kuh zu reiten.“

„Du wirst thun, was ich befehle.“

„Ich darf nicht, lieber Herr.“

„Wirst Du pariren, widerspenstige Brut, oder ich schieße!“

Mit diesen Worten erhob der Cavalier sein Rohr, und der Hahn knackte.

Der Knabe, durch dieses verdächtige Geräusch in hohe Angst versetzt, hielt gleichwohl Stand und rief in weinerlichem Tone: „Mein Vater hat es verboten.“

Der Cavalier, anstatt durch diesen Gehorsam gegen das väterliche Gebot für den Knaben eingenommen zu werden, hielt diese Unfolgsamkeit für verstockten Bauerntrotz, legte das Gewehr zielend an die Wange und wiederholte: „Wirst Du pariren, oder ich schieße!“

Als der geängstete Knabe die Mündung des Rohrs drohend auf sich gerichtet sah, sprang er erschrocken ein paar Schritte zur Seite, gleichsam um der Gefahr auszuweichen.

In diesem Augenblicke sprang Seume, der Göschen eine kleine Strecke voraus war und durch eine Lücke in der Schlehdornhecke das unritterliche Verfahren des jungen Edelmanns mit angeschaut hatte, hervor und rief mit Stentorstimme. „Junge, laß Dich nicht verblüffen, der Mann darf nicht auf Dich schießen!

Wie die Cavaliere sich auf diese Weise überrascht sahen und in der Ferne Göschen erkannten, der jetzt gleichfalls hinter dem Zaune hervortrat und dessen Persönlichkeit in ganz Grimma und der Umgegend in hoher Achtung stand, hielten sie es für gerathener, von weiterer Beängstigung des armen Knaben abzusehen und in einen Seitenweg einzubiegen.

„Das war kein Meisterstreich, Octavio!“ rief ihnen Seume erzürnt und spottend nach; doch die jungen Herren setzten trotz dieses Nachrufs ihren Weg unbeirrt fort. Da keiner von ihnen Octavio hieß, brauchten sie denselben nicht auf sich zu beziehen, und die Bonmots aus den Schiller’schen Dichtungen waren damals noch nicht so bekannt wie heutzutage.

Seume, welchem das für sein Alter so standhafte Verhalten des Knaben sehr gefallen hatte, ließ sich mit dem kleinen Burschen in ein Gespräch ein. Es war ein blonder Lockenkopf mit treuherzig blauen Augen. Bald kam auch Göschen hinzu. Die Antworten und das Benehmen des Kleinen gefielen den Beiden. Man erfuhr, daß der Vater ein armer Häusler und Tagelöhner aus dem benachbarten Dorfe Bahren, und daß die Kuh der einzige Reichthum der mit zahlreichen Kinder gesegneten Familie sei.

„Kannst Du auch lesen?“ frug Göschen.

„O ja,“ war die Antwort.

[201] Göschen zog ein Buch hervor und es dem Kleinen hinreichend, sagte er: „Da lies einmal, gleich hier die erste Seite.“

Es war der dreißigjährige Krieg von Schiller.

Der Knabe las für sein Alter und seinen Stand mit ungewöhnlicher Fertigkeit und nicht ohne Ausdruck.

„Kannst Du auch schreiben?“ frug Göschen weiter.

„Ja, aber ganz langsam.“

„Hättest Du wohl Lust, Buchdrucker zu werden?“

„Wie der Herr Factor Langbein?“ frug freudig erregt der Knabe, „wie gern! Herr Langbein hat auch als ganz kleiner Knabe angefangen, Buchdrucker zu werden.“

„Je nun,“ lächelte Göschen, „wenn Du recht fleißig bist und recht Tüchtiges lernst, kannst Du auch einmal Factor werden. Kennst Du mich denn?“

Der Knabe nickte freundlich und erwiderte: „Herr Göschen.“

„Wohlan,“ fuhr dieser Menschenfreundliche fort, indem er dem hocherfreuten Knaben ein Viergroschenstück schenkte, „sag’ Deinem Vater, daß er mich morgen besuchen soll, ich werde weiter mit ihm reden.“

Der Knabe, das Silberstück in der Hand, wußte nicht, ob er wache oder träume. So reich war er im Leben nicht gewesen. Welcher Wechsel! Erst sollte er todtgeschossen werden, und jetzt solches Glück und auch noch die Hoffnung, Buchdrucker zu werden, wonach schon immer sein Sinn gestanden.

Seume und Göschen setzten ihre Wanderung nach Böhlen fort. Ersterer nahm Gelegenheit, seinen Unmuth über das Benehmen der Edelleute gegen den armen Knaben laut werden zu lassen.

„Diese jungen Leute aus den bevorzugten Ständen,“ sprach er, „welche sich das Brüsquiren des Bürger- und Bauernstandes, Kenntnißlosigkeit und Verachtung aller Wissenschaftlichkeit als noble Passion anrechnen und deren Anzahl leider Gottes in deutschen Landen nur zu häufig gefunden wird, diese rudis indigestaque moles, die wie ein Plumpsack auf unsrer politischen wie gesellschaftlichen Entwicklung ruht, trägt ebenfalls dazu bei, daß das deutsche Volk aus seinem bejammernswerthen Zustande nicht herauskommt. Am ausgeprägtesten ist dieses nichtslernende, brüsquirende und sich selbst überhebende Junkerthum unter den jüngern größtentheils aus Adeligen bestehenden preußischen Officieren zu finden. Ich bin erschrocken, als ich unlängst Gelegenheit hatte, diese Kreise kennen zu lernen. Welche totale Unkenntniß der Weltlage, zumal Frankreich und der französischen Armee gegenüber! Dabei welcher Uebermuth und Verachtung alles Nichtpreußischen! Diese Unglückseligen betrachten die Franzosen noch immer durch die Brille von Roßbach und bedenken nicht, daß kein großer Friedrich mehr an ihrer Spitze steht und gegenüber ein Napoleon. Letztrer so wie dessen Marschälle gelten jenen Leuten für Nichts als aus dem Pöbel hervorgestiegene Glückspilze und Emporkömmlinge, für avancirte Unteroffiziere, die von einem Cadettenhause und probemäßiger Dressur keine Ahnung haben. Der simpelste preußische Lieutenant hält sich für berufen, den Napoleon in ein Mauseloch zu treiben, und bespöttelt den Oesterreicher, daß er Italien von zusammengelaufenen Pariser Straßenjungen und zerlumpten Bataillonen sich hat nehmen lassen. Wer kurzsichtiger Weise seine Macht also überschätzt und den Feind in solchem Grade verachtet, ist schon halb geschlagen. Das kann unmöglich ein gutes Ende nehmen, falls es über kurz oder lang zum Kriege kommt, wie nicht ausbleiben wird. Die preußischen Junker mit ihrem Bramarbasiren werden den preußischen Staat nicht retten; und unverständiger Uebermuth hat noch alle Zeit seine Strafe erhalten.“[1]

„Dieses deutsche Junkerthum überhaupt,“ fuhr der Spaziergänger nach Syrakus fort, „rangirt, wo es sich um vernünftigen Fortschritt und gesunde Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse handelt, noch unter dem deutschen Philister und Zopfbüreaukraten, was gewiß viel sagen will. Es ist zum Verzweifeln, auf der einen Seite übermüthiges Junkerthum, zopfiges Philisterthum und auf der andern diese empörende Unterwürfigkeit und Bedientenhaftigkeit im Bauer- und Bürgerstande. Es hat mich darum ordentlich erquickt, daß der Hirtenbub vorhin nicht sofort den unterthänigen Knecht und gehorsamen Diener machte, wie wir im Volk vornehmen Herren gegenüber so gewohnt sind, sondern daß ihm das Gebot seines Vaters höher stand, als der Befehl des Junkers, selbst als die todbringende Mündung auf ihn gerichtet war. Darum sprang ich auch sofort vor und rief dem kleinen Kerl zu: Junge, laß Dich nicht verblüffen! Dieser Ausruf war schon ein Lieblingsbonmot meines Vaters, das er mir in den unterschiedlichsten Lebensverhältnissen und Situationen zugerufen hat. Auch meinem Vater war vermöge seiner ehrlichen, offenen und kernigen Natur nichts mehr zuwider, als jenes bänglich unsichere Wesen im Volke Höhergestellten oder blos Bessergekleideten gegenüber. Er haßte alles Scheinwesen, Poltronerie, Gespreiztheit und Vornehmthuerei und konnte es vor den Tod nicht leiden, wenn sich der Niedriggestellte dadurch in’s Bockshorn jagen ließ. Wer ein gut Gewissen hat, pflegte er zu sagen, kann dem Könige offen in’s Auge sehen, und ist der König ein braver und unbefangener Herr, wird ihm solche Offenheit besser gefallen, als ersterbende Unterwürfigkeit, die nur entwürdigt. Darum rief er mir fort und fort zu: Junge, laß Dich nicht verblüffen! So ist denn dieser Ausdruck auch bei mir in Blut und Leben übergegangen. Schon früh ward ich gewöhnt, mich nicht durch Scheinwesen einschüchtern und consterniren zu lassen. Es mag sein, daß ich darum vielen Leuten, als in zu rauher Schale, unbequem und ungenießbar geworden bin; mir gleich, ich bereue mein Verhalten nicht und danke es meinem Vater heute noch, daß er mir schon frühzeitig zugerufen: Junge, laß Dich nicht verblüffen!

„Dieser Charakter, lieber Seume,“ versetzte Göschen, „ist auch in Ihren Schriften nicht zu verkennen und verleiht denselben eben jenen Werth, welchen wir in der übrigen publicistischen Presse der Gegenwart vermissen; aber offen gestehen muß ich Ihnen, daß ich bei Durchlesung Ihres Vorworts zum „Sommer 1805“ wahrhaft erschrocken und nicht ohne Besorgniß für die Folgen bin. Diese Vorrede ist allerdings unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen eine That zu nennen. Kein zweiter deutscher Schriftsteller würde sie gewagt haben. Ich erinnere Sie nur an die Stelle, wo es heißt: „Ich will mit tiefem Trauergefühl als deutscher Mann noch ein Wort sprechen – weil ich will und Fug habe. Beherzige man es oder beherzige man es nicht; ich habe dabei nichts zu verlieren, als meinen Kopf; und dieser fängt an grau zu werden und wird täglich entbehrlicher. Tausende müssen ihn mit wenigem Sinn täglich wagen für die Grille eines Einzigen, den Wink eines Despoten, das Nicken seines Lieblingshandlangers, vielleicht für den Unterrock seiner Maitresse; ein unbefangener Mann wird ihn doch wagen dürfen für das, was er nach seiner Ueberzeugung für Wahrheit hält. Durch Wahrheit ist nach alter Erfahrung freilich keine Gunst zu verdienen, denn sie beleidigt fast überall, weil fast überall Sünde ist. – Wo die Bajonnete der Söldlinge herrschen, ist von Vernunft und Freiheit, Gerechtigkeit und Volksglück nicht mehr die Rede. Wenn es so fort geht, ist die gefürchtete Römerei fertig. – Jedes Privilegium wird ein Staat im Staate und beweist die Krankheit im Gesetze. Wer sein Vermögen nicht mehr verwalten oder verwalten lassen kann, hat für sich und den Staat als Bürger zu viel; und wer nicht mehr Bürger ist, ist durchaus weniger und wird für den Staat negativ. Aber wer denkt an Bürgerpflicht, wenn sie der Staat nicht ordnet etc.“[2] – Das ist eine gar kühne Schreibweise, lieber Seume, heutzutage. Ich begreife nicht, wie sie der sonst so ängstliche Censor hat passiren lassen können.“

„Es kann höchstens den Kopf kosten,“ wiederholte ruhig der deutsche Mann, „und dieser wird täglich grauer.“

Die beiden Spaziergänger hatten indeß das Gasthaus des Dorfes Böhlen erreicht, wo sie diesem gegenüber unter den alten ehrwürdigen Linden Platz nahmen. Es ward Kaffee bestellt, der auch bald von dem Wirthe Stephan, welcher noch in seinem Greisenalter oft von dem Herrn „Hauptmann“[3] zu erzählen wußte, gebracht wurde.

„Die Bank ist auch fertig, mein Herr Hauptmann,“ sprach Stephan, „der Hoiermüller hat endlich dazu gethan und sie nach dem Herrn Hauptmann, weil er dort gerne zu sitzen pflegt, „Seume’s Ruhe“ genannt.“

„Diese Taufe konnte sich der Hoiermüller ersparen,“ meinte Seume; „ich liebe dergleichen nicht; aber die Bank selbst freut mich,“ und zu Göschen gewendet fuhr er fort: „diese Bank müssen wir heute noch einweihen. Die Aussicht von da ist eine der schönsten.“

Wirklich sah man auch die beiden Männer nach einiger Zeit den Weg, der durch munteres Erlengebüsch nach der anmutig gelegenen [202] Hoiermühle führt, dahin wandeln und eine nicht zu steile Anhöhe emporsteigen.

Hier stand ein prächtiger alter Eichbaum, der seine grünen Arme weit hinauf streckte zum blauen Himmel und an dessen Stamm eine kleine Breterbank angebracht war.

„Sie haben Recht, Seume, das ist ein köstlicher Punkt,“ sprach Göschen, der auf der Bank Platz genommen und den Blick entzückt über die schöne Thallandschaft auf- und niederwärts schweifen ließ.

Jenseits schaute von umwaldeter Höhe das alte Schloß Döben mit seinen grauen, zum Theil von Epheu umsponnenen Mauern in ernster Stille auf das lachende Thal hernieder. Ein Strecke thalabwärts die im Eichendunkel vergrabene Golzermühle, zu welcher ein zwar schmaler, aber von Erlen umschatteter Fußpfad längst der Felsenwände führte. Gleich am Fuße des Schloßbergs das idyllisch zwischen Obstbäumen hervorlauschende Dörfchen Golzern. Weiter aufwärts sanftgrüne fruchtbare Wiesenfläche lieblich an Waldberge sich anlehnend. Weiter im Vordergrunde, am linken Muldenufer, das stattliche, von schönen Gärten umgebene Herrenhaus von Böhlen und in nächster Nähe am Bergesabhange die ebenfalls reich umgrünte Neumühle. Inmitten der schönen Landschaft zog sich die Mulde silbernd durch die Thalebene, hier und da von Erlen umsäumt und die weichen Moos- und Blumenufer küssend. Da die Mulde in der Nähe des Schlosses Döben um einen bewachsenen Landvorsprung einen anmuthigen Bogen beschreibt, konnte man das blaue Band des freundlichen Flusses von Aufgang bis Niedergang eine weite Strecke in’s Land hinein verfolgen. Ueber die Landschaft hinaus weitete sich die Aussicht nach Süden, und der Blick fiel in duftblaue Berge.

„Ich habe,“ begann Seume, „von Sicilien bis Schweden, ja bis jenseit des Oceans manch großartiges und prachtvolles Landschaftsbild genossen, aber kein anmuthigeres und lieblicheres als von diesem Plätzchen. – Ach,“ fügte er, stets seines deutschen Vaterlandes in Wehmuth gedenkend, düster lächelnd bei, „an schönen Aussichten fehlt es uns Deutschen überhaupt nicht, wenn nur die Einsicht der Leute da unten eine bessere wäre.“

„Sie wird nicht ausbleiben,“ tröstete der mildere Göschen, „sobald die Zeit gekommen. Unser himmlischer Vater wird sicher nicht wollen, daß seine schönen Landschaften nicht auch von einem erleuchteteren und bessern Geschlechte bewohnt werden.“

Die beiden Freunde saßen noch lange auf der Bank, sich des reizenden Landschaftsbildes erfreuend. Da begannen allmählich die Spitzen der gegenüber gelegenen Waldberge sich zu röthen, die Sonne sank tiefer; mehr und mehr zog das Thal den Purpurmantel des Abends an, und vom Kirchlein zu Hohenstädt tönte fromm die Abendglocke, Frieden verkündend über Berg und Thal.


Die Bank unter der alten Eiche hat sich lange Jahre erhalten. Ob sie jetzt noch steht, müssen die Bewohner von Grimma am besten wissen. Auch der Eichbaum grünte noch fröhlich vor nicht zu langer Zeit; aber heutigen Tags noch heißt im Munde des Volks jene Anhöhe „Seume’s Höhe“ oder „Seume’s Ruhe“.

Außer ihr giebt es noch eine zweite Seume’s Ruhe ganz in der Nähe von Grimma. Gleich bei der Gattersburg führt von der Colditzer Chaussee ein ziemlich abschüssiger und beschwerlicher Pfad hinab zum umwaldeten Muldenufer. Hier trifft man auf ein heimlich Plätzchen, wo der deutsche Mann ebenfalls oft gesessen und in philosophischer Abgeschiedenheit dem Gemurmel der Wellen gelauscht haben soll.


Der junge Kuhhirt aus Bahren ist bald nach der oben beschriebenen Scene unter der Leitung des tüchtigen Factors Langbein ein eben so fleißiger, als gewissenhafter, intelligenter und geschickter Setzer in der Göschen’schen Officin zu Grimma geworden und hat später sein gutes Auskommen als Buchdruckereibesitzer in einer Provinzialstadt Sachsens gefunden. Als er ungefähr zwei Jahre nach dem erzählten Vorfall, dem er sein glücklich Geschick verdankte, erfuhr, daß der Herr Hauptmann wieder bei Göschen’s zu Besuch sei, konnte seine dankbare Gesinnung es nicht unterlassen, dem wackern Seume ein Zeichen seines Dankes und seiner Verehrung darzubringen. Er kleidete sich daher sonntäglich an und wanderte, einen frischen Blumenstrauß in der Hand, fürbaß nach Hohenstädt. Seine zweite Absicht war, dem Herrn Hauptmann sein Stammbuch, das er vom Buchbinder Ziegenbalk erhandelt, mit der Bitte zu überreichen, dasselbe mit einem Spruche zu eröffnen.

Nachdem der junge Kunstgenosse Guttenberg’s Dank, Strauß und Buch glücklich an den Mann gebracht hatte, war Seume ungemein erfreut über diesen Act der Dankbarkeit, wie ihn auch das offne, aber bescheidene Auftreten des jungen Burschen ungemein ansprach. Gern erfüllte er darum die Bitte desselben wegen eines Stammbuchspruchs, und sich der Scene mit den Cavalieren vor zwei Jahren erinnernd, schrieb er auch diesmal das Bonmot seines Vaters in das Buch:

     „Junge, laß Dich nicht verblüffen!
     Hohenstädt, 18. August 1808.
          Johann Gottfried Seume.“

  1. Wenige Monate nach dieser Unterredung erfolgte die Schlacht bei Jena.
  2. Siehe Seume’s sämmtliche Werke, Gesammtausgabe in 8 Bänden, Seite 7 und 15.
  3. Seume war eine Zeitlang Officier bei den russischen Grenadieren.